Das Haus der verlorenen Herzen
Aufgabe, wenn man es so nennen wollte, nicht gewachsen war. Im OP II geschah Ähnliches: Man eröffnete den Thorax des jungen Bisenti. Hier konnte man lässiger vorgehen. Leone war ja klinisch tot, nur die Herzpumpe arbeitete noch. Volkmar sah hinter seinen zusammengedrückten Lidern jeden Handgriff, der jetzt an den Tischen getan wurde, er hörte die leisen Angaben des Operateurs von Tisch I – es war Dr. Nardo –, das Klappern der Instrumente, das Schlürfen und Schmatzen des Blutabsaugers, das rhythmische Knirschen der Herz-Lungen-Maschine, und er roch das Blut und plötzlich den ätzenden Gestank von verbranntem Fleisch.
Er konnte nicht anders: Er zuckte hoch und sprang von seinem Stuhl.
»Wer koaguliert da?!« schrie er. »Welches Rindvieh arbeitet mit dem Elektromesser?!«
»Machen Sie's besser, Enrico!« sagte Dr. Sorianos Stimme ruhig.
Dr. Volkmar stürzte zu dem OP-Tisch. Er riß Dr. Nardo das Elektromesser aus der Hand und warf es weg. Die OP-Schwester stellte sofort den Strom des Gerätes aus. Mit ein paar Schritten ging Dr. Nardo um den OP-Tisch herum und übernahm die Stelle des 1. Assistenten. Hinter seinem Mundschutz konnte man sein Lächeln nicht sehen. Er hatte Dr. Volkmars Reaktion erwartet, hatte sie durch bewußte Fehler provoziert. Kein Arzt kann da ruhig sitzen bleiben und so tun, als ginge ihn das alles nichts an.
Dr. Volkmar nagte an der Unterlippe. Das OP-Team war eingespielt, man sah es sofort, er hatte es schon bei der Panzerherz-Operation bemerkt: Der Brustkorb war in bewundernswerter Schnelligkeit eröffnet worden, der Anschluß an die Herz-Lungen-Maschine war fast beendet. Vom OP II kam über Lautsprecher die erste Anfrage: »Wann seid ihr soweit? Bei uns ist alles bereit zum Transport.«
Volkmar blickte nach oben in die OP-Lampe, in das glitzernde Fernsehauge.
»Was ich hier mache, ist ein Verbrechen, Don Eugenio!« schrie er in ohnmächtiger Verzweiflung. »Hier wird ein Herz verpflanzt ohne die geringsten biochemischen Tests, ohne jede Voruntersuchung, ohne jede …«
Er schwieg. Seine Stimme versagte.
Volkmar beugte sich wieder über den offenen Thorax. Das Herz von Arrigo Melata, von einem ›Mitarbeiter‹ Gallezzos mit einem derart stumpfen und ausgezackten Messer durchstochen, daß eine normale Herznaht völlig unmöglich war, zuckte nur noch unter dem Pumpwerk der maschinellen Impulse. Im Schreiber des EEG aber waren die Hirnströme fast normal! Der Neurologe am Gerät gab nüchtern seine Kommentare durch.
»Anschluß beendet!« sagte Dr. Nardo kühl. Das bedeutete, daß Melatas Herz überflüssig war. Er lebte nur noch durch die Maschine.
Von jetzt an herrschte atemlose Spannung in beiden OPs. Im OP II konnte man über ein Fernsehbild auch sehen, was an Tisch I geschah.
Wie ging Dr. Volkmar vor? Was tat er jetzt? Welche Anordnungen würde er gleich geben? So etwas hätte man unter normalen Umständen in langen Vorsitzungen mit den Ärzteteams besprochen, Griff für Griff, sekundengenau, generalstabsmäßig festgelegt. Hier aber stand Dr. Volkmar vor einer Situation, in der es nur zwei Entscheidungen gab: den Mut des Genies – oder die Kaltschnäuzigkeit eines Vabanque-Spielers.
Durch den schrecklichen Stich war die ganze linke Herzkammer zerstört. Würde Dr. Volkmar sie durch die Herzkammer des jungen Bisenti ersetzen? Es war die Operation, die man immer wieder im Tierexperiment geübt hatte: die partielle Transplantation.
Volkmar holte ein paarmal tief Luft. Eine Schwester wischte ihm mit einem kalten, in Sterillösung getauchten Tuch den perlenden Schweiß von der Stirn und aus den Augen. Ein scharfer Geruch von reinem Alkohol zog in seine Nase. Erst dann hatte er wieder Ton in seiner Kehle.
»Das Herz!« sagte er, noch immer mühsam.
»Wie bitte?« Die Gegenfrage aus OP II.
»Das ganze Herz!« sagte Volkmar laut. Und dann brüllte er: »Das ganze Herz!«
Dr. Nardo und alle Ärzte um Tisch I starrten ihn an wie ein Gespenst. Auch die Internisten, Anästhesisten und Neurologen blickten zu ihm hinüber, als sei er plötzlich verrückt geworden. Das ganze Herz?! Der Mann dreht durch …
»Das ganze Herz …«, antwortete eine heisere Stimme aus OP II. »Wie Sie wünschen, Chef …«
Chef! Zum erstenmal fiel dieses Wort. Dr. Volkmar zuckte zusammen.
Chef! Chef einer Mafia-Klinik! Chef eines Ärzteteams, das mit jedem Griff ein Verbrechen beging. Chef einer Herztransplantation, die zu nichts diente als zum nackten Experiment am Menschen.
Er beugte sich
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