Das Haus der verlorenen Herzen
gleichmäßiger. Die Atmung, bisher flach, hob sich.
»Zumachen!« sagte Volkmar leise. Er betrachtete noch einmal die Gefäßnähte und wußte, was früher oder später eintreten würde. »Und beten …«
Er trat vom Tisch zurück, warf seine Handschuhe weg und verließ den OP durch die automatische Glastür.
Es ist nicht üblich, daß in einem Operationssaal applaudiert wird, aber die Blicke der Ärzte, die Volkmar folgten, waren voll entsetzter Bewunderung.
Im Vorraum erwartete Dr. Soriano bleich und mit im Schoß gefalteten Händen den zum Umfallen erschöpften Volkmar. Er war wie gelähmt und stand nicht auf, als sich Volkmar stumm auf das Sofa an der Längswand warf und die Augen schloß.
»Sie sind ein Genie«, sagte Dr. Soriano mit einer Stimme, die noch keiner von ihm gehört hatte. »Nein, Sie sind kein Genie … Sie sind eine Hand Gottes! Mit Ihnen hat heute ein neues Jahrhundert begonnen!«
»Der Mann wird sterben.« Volkmar legte beide Hände über sein Gesicht. »Er hat keinerlei Chancen.«
»Natürlich wird er sterben.«
»Und er hat zwei Mörder: Sie und mich!«
»Beide waren bereits tot. Wenn Melata nur eine Stunde noch lebt, haben Sie einen Schöpfungsakt vollzogen, Enrico. Mein Gott, mir fehlen die Worte!«
Dr. Soriano starrte auf den Fernsehschirm. Dort sah man, wie das Team Dr. Nardos den Thorax wieder schloß. Der junge herzlose Körper von Leone Bisenti war längst aus OP II weggerollt worden und würde spurlos verschwinden. Das gleiche Schicksal würde Melata erleiden.
»Dr. Volkmar«, sagte Soriano nach einer Weile, »die neue, perfekte Herzklinik in den Bergen von Camporeale wird erst in einem halben Jahr fertig sein. Aber was Ihnen jetzt fehlt, sollen Sie sofort bekommen. Alle Maschinen, dieses Teflon, Laboreinrichtungen, alles. Wünschen Sie sich, was Sie wollen.«
Volkmar gab keine Antwort.
Er schlief. Seine Arme hingen herab auf den Marmorboden, seine Finger zuckten heftig. Er mußte Schreckliches träumen.
Arrigo Melata überlebte die Verpflanzung des Herzens genau siebzehn Stunden. Er lag in einem völlig sterilen Zimmer, keine Minute ohne Wache. Wer zu ihm wollte, wurde durch drei Vorkammern geschleust und dreimal keimfrei gemacht. Nach vier Stunden erwachte er sogar, war bei vollem Bewußtsein und wunderte sich, wo er war. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war der Autounfall. Dieser verdammte Steinhaufen, der auf der Straße lag, mitten drauf, hinter einer Kurve auch noch, in den er hineingesaust war, soweit man bei seinem alten Fiat von Sausen sprechen konnte. Nun lag er in einem weißen Bett, unter weißen Laken, angeschlossen an Schläuche, bewacht von einem Arzt und einer netten, jungen Schwester, die zu ihm sagte:
»Seien Sie ganz still, Signore Melata. Rühren Sie sich nicht. Sie sind sehr krank, aber wir schaffen das schon.« Und der Arzt lächelte stumm dazu.
Volkmar blieb im ›Altersheim‹, um zu kontrollieren, wie es weiterging. Daß Melata überhaupt die erste Stunde überlebte, daß er aufwachte, daß er klar bei Bewußtsein war, daß er sogar, entgegen allen Verboten, sprach – »Hat keiner einen Wein für mich?!« –, das allein war schon unfaßbar. Der Blutkreislauf funktionierte also, das Gehirn war genügend mit Sauerstoff versorgt, es hatte keine Ausfallerscheinungen gegeben, der gefürchtete Hirnzellentod war nicht eingetreten. Aber das hieß nicht, daß Melata auch nur den Bruchteil einer Chance hatte, zu überleben. Es war nur eine Frage der Zeit, und das war es, was Dr. Volkmar kaum ertragen konnte. Er hatte sich damit beruhigt, zwei Menschen, die schon klinisch tot waren, operiert zu haben. Und der Transport eines Herzens in einen anderen Körper war fast ein Obduktionsakt gewesen, eine Übung, die erste Anwendung einer neuen Operationsmethode. Daß Melata nun weiterlebte, ein vollwertiger Mensch war – wenigstens für einige Stunden – und doch ganz sicher sterben würde, weil er mit einem Herzen weiterlebte, das nur experimentell in ihm pumpte: das war für Volkmar keine medizinische Großtat, sondern ein Mord auf Raten.
Dr. Nardo, bleich, ausgelaugt von den vergangenen Stunden, aber von einer ungeheuren Zähigkeit, überwachte die Intensivstation mit zwei Internisten und einem Anästhesisten. Kein Zucken in Melatas Körper entging ihnen und den elektronischen Aufzeichnungsgeräten. Jede Minute, die Melata länger lebte, erschien als Wunder.
Volkmar kam viermal in den ersten Vorraum und ließ sich berichten. Er besuchte auch
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