Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
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Kapitel 1
Kalt. Das war die erste Empfindung, die Pauline wahrnahm. Etwas kratzte an ihrer Wange. Mit einiger Anstrengung kämpfte sie sich durch den Nebel des Schlafes und öffnete die Augen. Zunächst sah sie nichts als Finsternis. Erst allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, den Geruch nach Heu und Pferd. Ein Schnauben gleich neben ihrem Ohr ließ sie hochschrecken. Ihr Herz schlug heftig. Wo befand sie sich? In einem Stall?
Kaum hatte sie sich diese Frage gestellt, als die Erinnerung auch schon über sie hereinbrach. Der Polizist, der sie abgeführt hatte. Das Gefängnis. Frau Buschner, die gekommen war, um sie zu entlasten; die ihr das Geld für die Postkutsche gegeben hatte und eine Tasche mit ihren Habseligkeiten darin. Nicht alles, was Pauline einmal besessen hatte. Natürlich nicht, wozu auch? Es war Pauline schon wie ein Wunder erschienen, dass ihre ehemalige Arbeitgeberin sich überhaupt herabgelassen hatte, ihr zu helfen. Noch jetzt klangen ihr Hermine Buschners Worte in den Ohren: «Fräulein Schmitz, diese Angelegenheit ist mir äußerst unangenehm, wie Sie sich vorstellen können. Sie haben sich in meinem Haushalt unmöglich gemacht und damit nicht nur unserem Ruf geschadet, sondern den Ihren auf immer zerstört. Ich weiß, dass dies nicht Ihre Schuld ist, sondern die meines Gatten, doch das ändert nichts an den Tatsachen. Ich wünsche, dass Sie die Stadt verlassen, und zwar so schnell und so weit wie möglich. Gegenüber der Polizei habe ich angegeben, dass es sich bei den Vorwürfen, die mein Gatte gegen Sie erhoben hat, um ein Missverständnis handelt. Dafür verlange ich von Ihnen, dass Sie sich nie wieder in Bonn blicken lassen. Sie dürfen das Gefängnis heute noch verlassen. Von Ihren Besitztümern habe ich mitgebracht, was in diese Reisetasche passte. Außerdem den Ihnen noch zustehenden Lohn für die vergangenen beiden Monate sowie eine Fahrkarte für die Postkutsche, die morgen früh um acht Uhr in Richtung Köln fährt. Mehr kann ich nicht für Sie tun, Fräulein Schmitz – und ehrlich gesagt, will ich auch gar nicht. Halten Sie sich von Bonn und unserer Familie fern. Aber ich gebe Ihnen den einen guten Rat: Vermeiden Sie es, noch einmal in eine derart prekäre Lage zu geraten. Sie sind eine kluge junge Frau. Es wäre schade, wenn Sie in der Gosse landen würden, obgleich ich fürchte, dass Sie davon nicht mehr allzu weit entfernt sind.»
Pauline schauderte, wenn sie daran dachte, welch Härte gerade in den letzten Worten gelegen hatte. Dennoch hatte Frau Buschner ihr geholfen. Hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt? Am liebsten hätte Pauline alles, was mit der Familie des Feldwebels Friedhelm Buschner zusammenhing, auf immer und ewig vergessen. Doch das war nicht möglich, denn was ihre ehemalige Arbeitgeberin gesagt hatte, entsprach leider der Wahrheit: Pauline hatte ihren Ruf ein für alle Mal zerstört. Sie war ein gefallenes Mädchen. Unwürdig, von anständigen Menschen auch nur angesehen zu werden. Schmutzig. Verachtenswert. Und überdies fast vollkommen mittellos. Das bisschen Lohn in ihrer Geldbörse würde schnell aufgebraucht sein. Und was dann? Was sollte sie tun? Wohin sich wenden? An ein Armenhaus? Was würde Onkel Theobald sagen, wenn er sie so sehen könnte? Wie tief enttäuscht wäre er.
Doch Onkel Theobald war tot. Es war niemand mehr da, den es auch nur einen Deut kümmerte, was aus ihr wurde. Sie konnte ebenso gut tot sein. Wer würde es schon bemerken, wer sich grämen?
Pauline setzte sich kerzengerade auf. Was waren das für entsetzlich gottlose Gedanken? Sie war nicht tot. Sie lebte, und sie musste einen Weg finden, aus ihrer misslichen Lage wieder herauszufinden.
Ein erneutes Schnauben neben ihrem Kopf veranlasste sie, von ihrem Heulager aufzustehen. Umständlich klopfte sie Staub und Halme von ihrem braunen Mantel und dem cremefarbenen, mit hellgelben Blüten bestickten Kleid. Inzwischen war es in dem Stall etwas heller geworden, und die braune Stute, in deren Verschlag Pauline die Nacht verbracht hatte, musterte sie neugierig.
Pauline hob zaghaft die Hand und streichelte dem Tier über die Nüstern. «Danke, dass du mir heute Nacht Obdach gewährt hast», murmelte sie. «Aber jetzt muss ich gehen, ehe noch jemand kommt und mich bemerkt.»
Sie nahm ihre Tasche und schlich zum Stalleingang. Die Morgenluft war herbstlich kühl, irgendwo bellte ein Hund. Nicht weit entfernt quietsche etwas, das sich wie eine
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