Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
Brunnenkette anhörte. Sie musste hier weg, bevor jemand sie entdeckte. Als sie an der Latrine vorbeikam, die sich gleich neben dem Stall befand, wurde sie sich des Drucks ihrer Blase bewusst. Rasch blickte sie sich um; niemand war zu sehen. Also ging sie das Wagnis ein und erleichterte sich. Wenig später stand sie auf der Straße. Unschlüssig sah sie sich nach allen Seiten um. Wohin sollte sie nur gehen? Sie kannte niemanden in Köln, hatte sogar ein wenig Angst vor der großen Stadt. Was gab es hier schon für eine mittellose, unverheiratete Frau ohne Familie? Die Gosse? Würde sie tatsächlich dort enden?
Tränen stiegen in ihre Augen, doch sie drängte sie zurück. Weinen würde ihr nicht helfen. Sie schloss die Finger fester um den Griff ihrer unförmigen Reisetasche. Sie würde in die Stadt gehen. Hier in den Vororten gab es keinen Platz für sie. Aber vielleicht fand sie in einem der Bürgerhäuser innerhalb der Stadtmauern eine Anstellung.
Zuerst musste sie sich eine Zeitung besorgen. Darin standen immer Stellenangebote, auch für Frauen. Vielleicht fand sie eine Agentur, die Arbeitsplätze vermittelte. Sie hatte eine solche von ihrem Heimatort Bad Bertrich aus beauftragt, ihr eine Stellung als Gouvernante zu vermitteln, nachdem ihr Onkel gestorben war. So war sie nach Bonn gekommen. Das Angebot der Buschners hatte so verlockend geklungen, dass sie unmöglich hatte ablehnen können. Eine große Familie mit sieben Kindern, aber nur die beiden jüngsten Töchter sollte sie unterrichten und erziehen. Sie erhielt einen anständigen, ja sogar überdurchschnittlichen Lohn und eine eigene kleine Kammer in der Mansarde. Ungeheizt zwar, aber hübsch eingerichtet. Alles war ganz wunderbar gewesen, die beiden Mädchen ein Ausbund an Tugendsamkeit und Gehorsam. Es war eine Freude, sich um sie zu kümmern. Drei Monate lang war Pauline richtig glücklich.
Sie schloss kurz die Augen. Nein, sie wollte nicht mehr daran denken. Wenn sie es verdrängte, es aus ihren Gedanken ausklammerte, würde vielleicht niemand merken, was mit ihr geschehen war. Man sah es ihr doch nicht an. Kein Mensch konnte in ihren Kopf sehen, ihre Gedanken lesen oder ihre Gefühle wahrnehmen. Hier in Köln wusste niemand, wie der Hausherr sie immer angesehen hatte; wie er ihr mit süßen Worten Komplimente gemacht und ihr geschmeichelt hatte. Wie er sie dazu gebracht hatte, in ihm mehr als nur ihren Arbeitgeber zu sehen.
Oh, wie hatte sie sich gegenüber seiner Gattin geschämt! Aber die anderen Dienstboten, vor allem die Mägde, hatten gesagt, sie solle sich nicht so anstellen. Sie habe doch eine wunderbare Stellung, da müsse sie der Herrschaft schon ein bisschen Dankbarkeit zeigen. So hatte es auch Friedhelm Buschner ausgedrückt: Sie schuldete ihm etwas, sollte dankbar sein für die gute Stellung, die er ihr bot. Sie war ja auch dankbar und fühlte sich auch irgendwie geschmeichelt von seinen Worten, von den Blumen, die er ihr manchmal zusteckte, oder von dem Konfekt, das sie hin und wieder auf ihrem Kopfkissen fand. Und es war ja auch alles ganz unschuldig gewesen. Er hatte lediglich ein wenig mit ihr poussiert, manchmal sogar ganz unverschämt in Anwesenheit seiner Gattin. Pauline war dann immer fast gestorben vor Verlegenheit.
Sie schüttelte energisch den Kopf. Nicht mehr daran denken!, mahnte sie sich. Es war aus und vorbei. Bonn war weit weg und damit auch Friedhelm Buschner. Vielleicht nicht weit genug, aber fürs Erste musste es reichen. Und solange sie keine neue Anstellung hatte, würde sie hier in Köln bleiben.
***
Gegen Mittag hatte sie den Stadtkern erreicht. Geschäftiges Treiben herrschte hier. Große zweiachsige Landauer, kleine einspännige Wagen und schwere Fuhrwerke fuhren an ihr vorüber. Handwerker, Mägde und Hausfrauen bevölkerten die Marktplätze. Dazwischen flanierten die Herren und Damen der höheren Kreise, die entweder in Geschäften unterwegs oder samt einem Tross aus Dienstboten mit Einkaufen beschäftigt waren.
Pauline blickte sich mit großen Augen um. Niemals zuvor war sie in einer so großen Stadt gewesen. Als sie den riesigen, unvollendeten Dom erreichte, stockte ihr regelrecht der Atem. Was für ein Bauwerk! Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte staunend an der Fassade empor, bis jemand sie unsanft anrempelte.
«Dumme Trin!», schimpfte eine korpulente Frau, die zwei schwere Eimer trug und sie unfreundlich taxierte. «Häls’ wohl Maulaffen feil! Du stehs’ im Wääch, Mädche! Mach, dat de
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