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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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dass ich wieder in die Gehorsamkeit meiner Kindheit zurückfiel.
    »Mein Sohn ist eine Memme, Kolek Borisowitsch«, verkündete er dann, seinen Triumph sichtlich genießend. »Das passiert, wenn man in einer Familie voller Weiber aufwächst. Dann wird man selber zu einem!«
    »Aber ich bin auch in so einer Familie aufgewachsen«, sagte Kolek und versenkte das Blatt seiner Axt in dem Baumstamm vor ihm. Und dann fragte er, das nach oben ragende Ende des Axtstiels zwischen seinen vor der Brust verschränkten Armen: »Halten Sie mich also auch für eine Memme, Daniil Wladjewitsch?«
    Mein Vater öffnete den Mund, um ihm zu antworten, doch bevor er dies tun konnte, kam Koleks eigener Vater um die Ecke und auf uns zugestiefelt, mit puterrotem Gesicht und vor Zorn schnaubend, wobei sich sein Atem in der kalten Vormittagsluft in kleine Dampfwolken verwandelte. Er hielt einen Augenblick inne, als er uns drei dort herumstehen sah, schüttelte den Kopf und warf angewidert die Arme in die Höhe, auf eine dermaßen theatralische Weise, dass ich mir auf die Unterlippe beißen musste, um nicht loszulachen und ihn womöglich zu beleidigen.
    »Es ist eine Schande«, schrie er, so laut und aggressiv, dass keiner von uns etwas sagte. Wir starrten ihn bloß stumm an und warteten darauf, die Ursache seines Missvergnügens zu erfahren. »Eine Affenschande!«, fuhr er fort. »Nein, dass ich das erleben muss! Ich nehme an, du hast schon davon gehört, Daniil Wladjewitsch?«
    »Wovon?«, fragte mein Vater. »Um was geht’s?«
    »Wäre ich jünger«, erwiderte er, wobei er warnend den Zeigefinger erhob, wie ein Lehrer, der eine Gruppe unartiger Schuljungen ermahnt. »Ich sage dir, wäre ich jünger und noch im Vollbesitz meiner Kräfte …«
    »Boris«, unterbrach ihn mein Vater, fast schon ein wenig belustigt von der Wut seines Freundes. »Du siehst so aus, als wolltest du heute noch jemanden umbringen.«
    »Mit so was treibt man keine Scherze, mein Lieber!«
    »Womit? Was für Scherze? Ich weiß noch nicht mal, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist.«
    »Vater«, sagte Kolek, mit einer so sorgenvollen Miene, dass ich dachte, er würde ihn gleich in die Arme nehmen. Diese offenkundige Zuneigung zwischen Vater und Sohn war für mich eine ständige Quelle der Faszination. Da ich eine solche Wärme selber nie erfahren hatte, nahm ich sie bei anderen immer voller Erstaunen zur Kenntnis.
    »Ein Kaufmann, den ich gut kenne«, erklärte Boris schließlich, wobei er die Worte vor Aufregung und Wut herunterstotterte, »ein vertrauenswürdiger Mann, ein Mann, der nie lügt oder betrügt, ist heute Morgen durch unser Dorf gekommen und …«
    »Ja, ich habe ihn gesehen!«, verkündete ich fröhlich, denn in Kaschin bekam man nur selten einen Fremden zu Gesicht, und nur eine Stunde zuvor war ein mir unbekannter Mann in einem Mantel aus feinem Ziegenhaar an unserer Hütte vorbeigegangen. Ich hatte ihm einen guten Morgen gewünscht, doch er hatte seinen Weg fortgesetzt, ohne mich eines Blickes zu würdigen. »Er ist hier vor einer knappen Stunde vorbeigekommen und …«
    »Halt die Klappe, Junge!«, blaffte mich mein Vater an, verärgert über meine Einmischung. »Du hast still zu sein, wenn die Erwachsenen sich unterhalten!«
    »Ich kenne diesen Mann seit vielen Jahren«, fuhr Boris fort, wobei er uns beide ignorierte. »Ein aufrichtigerer Mensch dürfte nur schwer zu finden sein. Letzte Nacht ist er durch Kaljasin gekommen, und es scheint, als wollte eines der Ungeheuer auf der Durchreise nach St. Petersburg durch unser Dorf ziehen. Dieser Kerl wird durch Kaschin kommen! Durch unser Dorf!«, fügte er hinzu, wobei er die Worte förmlich ausspuckte, so schwer war die Kränkung, die er empfand. »Und er wird natürlich erwarten, dass wir alle vor unsere Hütten treten und uns voller Verehrung vor ihm verbeugen, so wie es die Juden getan haben, als Jesus auf einem Esel in Jerusalem einzog. Eine Woche, bevor sie ihn kreuzigten, natürlich.«
    »Was für ein Ungeheuer?«, fragte Daniil und schüttelte verwirrt den Kopf.
    »Na, ein Romanow«, verkündete er, wobei er unsere Gesichter nach einer Reaktion durchforschte. »Kein Geringerer als der Großfürst Nikolaus Nikolajewitsch«, fügte er hinzu, und für jemanden, der die kaiserliche Familie so sehr verabscheute, ließ er den fürstlichen Namen von seiner Zunge rollen, als wäre jede Silbe ein kostbarer Edelstein, der mit äußerster Sorgfalt und Vorsicht behandelt werden musste, damit sein Glanz

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