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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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reglos verharrte, unfähig, mich zu bewegen, wobei ich mich fragte, ob ich vielleicht gerade das Ende der Welt erlebte.
    Ich brauchte fünfzehn, vielleicht auch zwanzig Sekunden, bis ich wieder atmen konnte, und erst in diesem Moment spürte ich meine Füße wieder und versuchte aufzustehen. Ich musste nachsehen, musste hingehen, musste ihnen helfen. Was immer dort gerade geschehen war. Doch noch bevor ich einen Schritt tun konnte, drang aus den Büschen vor mir lautes Geraschel, und jemand warf sich auf mich, sodass ich flach auf den Boden fiel. Einen Moment lang lag ich benommen da und fragte mich, was um Himmels willen geschehen war. Hatte mich eine Kugel erwischt? War dies der Augenblick meines Todes?
    Doch schnell fasste ich mich wieder und krabbelte rückwärts, wobei ich in der Dunkelheit angestrengt zu erkennen versuchte, wer da neben mir lag. Ich starrte und hielt den Atem an.
    »Georgi!«, schrie sie.

1918
    Es war ein Moment, wie ich ihn mir niemals erträumt hätte. Ich, Georgi Daniilowitsch Jatschmenew, der Sohn eines ehemaligen Leibeigenen, ein Nichts, ein Niemand, hockte zusammengekauert in einem Dickicht in der Dunkelheit einer eisig kalten Jekaterinburger Nacht und hielt in meinen Armen die Frau, die ich liebte: die Großfürstin Anastasia Nikolajewna Romanowa, die jüngste Tochter Seiner Kaiserlichen Majestät, des Zaren Nikolaus II ., und seiner Gemahlin, der Zarin Alexandra Fjodorowna Romanowa. Wie war ich hierhergekommen? Welche außergewöhnlichen Umstände hatten mich von den Blockhütten Kaschins in die Umarmung einer von Gott höchstselbst Auserwählten gelangen lassen? Ich schluckte nervös, und mir wurde ganz flau im Magen, als ich zu verstehen versuchte, was geschehen war.
    Im Ipatjew-Haus gingen die Lichter an und aus, und aus dem Innern drangen wütendes Gebrüll und manisches Gelächter. Als ich die Augen zusammenkniff, erkannte ich den Anführer der Bolschewiki, wie er an ein Fenster im oberen Stockwerk trat, es öffnete, sich hinauslehnte und seinen Hals auf eine fast schon unanständige Weise vorstreckte. Er ließ den Blick über das sich ihm bietende Panorama schweifen, bis er vor Kälte zitternd das Fenster wieder schloss und verschwand.
    »Anastasia«, flüsterte ich, wobei ich sie mit sanftem Druck ein wenig von mir wegschob, damit ich sie besser sehen konnte – während der letzten paar Minuten hatte sie sich auf eine so schmerzhafte Weise an meine Brust gepresst, als wollte sie sich einen Weg bis zu meinem Herzen graben, um sich darin zu verstecken. »Anastasia, meine Liebste, was ist passiert? Wer hat da geschossen? Die Bolschewiken? Oder der Zar? Sprich mit mir. Ist jemand verletzt?«
    Sie sagte kein Wort und starrte mich weiterhin an, als wäre ich kein menschliches Wesen, sondern eine Gestalt aus einem Albtraum, ein Phantom, das sich jeden Moment in Luft auflösen konnte. Es war, als erkannte sie mich nicht – sie, die mit mir von Liebe gesprochen, die mir ein Leben voll inniger Zuneigung versprochen hatte. Ich griff nach ihren Händen und ließ sie vor Schreck fast wieder fallen. Wäre sie zu Grabe getragen worden, so hätten ihre Hände nicht kälter sein können. Genau in diesem Moment verlor sie die Fassung und begann heftig zu zittern. Ihrer Kehle entfuhr ein tiefes, heiseres Geräusch, ein gequältes Ächzen, das einem Schrei vorausging. »Anastasia«, wiederholte ich, beunruhigt von ihrem sonderbaren Verhalten. »Ich bin es. Dein Georgi. Erzähl mir, was passiert ist. Wer hat da geschossen? Wo ist dein Vater? Wo ist deine Familie? Was ist passiert?«
    Keine Antwort.
    » Anastasia! «
    Ich spürte, wie mich jenes Grauen beschlich, das einen überkommt, wenn man Kunde von einem Gemetzel erhält. Als Junge hatte ich in Kaschin mitbekommen, wie Bewohner unseres Dorfes dahinsiechten und starben, ausgezehrt von Hunger oder Krankheit. Als Mitglied der Leibgarde hatte ich mit eigenen Augen gesehen, wie Männer in ihren Tod geführt worden waren, manche standhaft und unerschrocken, manche verängstigt. Doch nie zuvor hatte ich jemanden erlebt, der unter einem so tiefen Schock stand wie dem, der den Körper meiner vor mir auf dem Boden liegenden Liebsten erzittern ließ. Sie musste Entsetzliches erlebt haben, doch in meiner jugendlichen Unbedarftheit wusste ich nicht, wie ich ihr am besten helfen konnte.
    Die aus dem Haus dringenden Stimmen wurden nun noch lauter, und ich zerrte Anastasia tiefer in den Schutz der Bäume. Obwohl ich mir sicher war, dass man uns da, wo wir

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