Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Russland und dann Richtung Norden nach Finnland zu schmuggeln, von wo aus sie nach England entkommen könnten. Es müsste noch genug Sympathisanten geben, die die kaiserliche Familie beschützen würden, die für sie lügen und notfalls auch für sie sterben würden. Und sollte ich dabei erfolgreich sein, so würde mir der Zar die Hand seiner Tochter bestimmt nicht verwehren, trotz der uns trennenden Standesschranken. Es war eine gute Idee, aber sosehr ich mir auch das Gehirn zermarterte, ich sah keine Möglichkeit, sie in die Tat umzusetzen. Die Soldaten waren alle mit Gewehren bewaffnet, während ich nichts weiter hatte als ein paar Banknoten, die ich auf der Straße gefunden hatte. Die Bolschewiki und die neue Regierung würden ihre wertvollen Geiseln nicht so einfach ziehen lassen, damit sie im Exil einen russischen Hofstaat etablierten. Nein, sie würden sie für immer festhalten, sie würden sie isolieren, vor der Welt verstecken. Der Zar und die Zarin würden keinen Hofstaat mehr haben, sie würden den Rest ihres Lebens schwer bewacht in Jekaterinburg verbringen. Ihr Sohn und ihre Töchter würden dort alt werden. Man würde sie für den Rest ihres Lebens gefangen halten und ihnen nicht erlauben, zu heiraten oder Kinder zu bekommen, und die Romanow-Dynastie würde so ein natürliches Ende finden: In fünfzig oder vielleicht sechzig Jahren wäre sie ausgestorben.
Es war unvorstellbar, aber zugleich sehr wahrscheinlich. Allein schon der Gedanke deprimierte mich unsäglich. Die Stunden verstrichen, die Sonne ging unter, ich verließ das Café und streifte wieder durch die Straßen, lief eine Stunde lang in eine Richtung und dann dieselbe Strecke in die Gegenrichtung wieder zurück. Ich wurde nicht müde, denn in dieser Nacht musste ich einfach hellwach und auf der Hut sein. Es wurde neun Uhr, zehn Uhr, elf Uhr. Mitternacht nahte. Ich konnte nicht länger warten.
Ich ging zurück.
Wirkte das Haus tagsüber nicht besonders bedrohlich, so erweckte es nachts einen anderen Eindruck, der flackernde Schatten des Mondlichts, der auf die es umgebenden Mauern und Zäune fiel, beunruhigte mich. Die Wachen, die sich normalerweise in Schichten abwechselten, waren nun nirgends zu sehen. Das Tor war nicht geschlossen, und mitten auf der Zufahrt stand ein Lastwagen, dessen Fracht – falls es eine gab – sich unter einer Segeltuchplane verbarg. Ich hielt auf dem gegenüberliegenden Rasen inne und blickte mich nervös um. Was mochte sich wohl im Innern des Hauses abspielen? Da ich befürchtete, die Soldaten könnten zurückkehren und mich entdecken, schlich ich mich zu der Baumgruppe, die ich mit Maria als Treffpunkt ausgemacht hatte, und hoffte, Anastasia würde bald dort auftauchen.
Es dauerte nicht lange, bis in dem Salon im Erdgeschoss das Licht anging und eine, wie es schien, ganze Abteilung von Soldaten den Raum betrat. Sie trugen nicht mehr ihre bolschewistischen Uniformen, sondern hatten sich umgezogen und steckten nun in der Kluft einfacher Bauern. Sie hatten, wie immer, ihre Gewehre umhängen, aber anstatt sich, wie ich erwartet hatte, in Gruppen aufzuteilen und abzutreten – sei es um zu schlafen, um zu arbeiten oder um Wache zu schieben –, nahmen sie alle an dem Tisch Platz und richteten ihre Aufmerksamkeit auf einen älteren Mann, einen Soldaten, der offensichtlich das Kommando hatte und der im Stehen zu ihnen sprach, während sie still dasaßen und seinen Worten lauschten.
Einen Augenblick später hörte ich ein plötzliches Geräusch auf dem Kies der Zufahrt. Ich zog mich noch weiter in die Dunkelheit zurück, reckte aber meinen Kopf in die Höhe, um sehen zu können, wer da kam. Es war jedoch zu dunkel, und der Lastwagen versperrte mir die Sicht, sodass ich außer den Wachen im Salon niemanden erkennen konnte. Ich hielt den Atem an, und ja, da war es wieder – das knirschende Geräusch von behutsamen Schritten.
Jemand hatte das Haus verlassen.
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte verzweifelt zu erkennen, ob es sich um Anastasia handelte, traute mich jedoch nicht, ihren Namen zu rufen, ja noch nicht einmal, ihn leise zu flüstern, denn sollte ich mich geirrt haben, wäre ich sofort entdeckt worden. Mir blieb nichts weiter übrig, als zu warten. Das Herz schlug mir erneut bis zum Hals, und trotz der frischen Nachtluft traten mir Schweißperlen auf die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht. Ich fragte mich, ob ich es riskieren sollte, die Straße zu überqueren, doch bevor ich zu einer Entscheidung
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