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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Zufahrt hinunter und schritt gerade durch das Tor hinaus, als ich auf dem Kies hinter mir das sich schnell nähernde Getrappel von Füßen vernahm. Ich drehte mich um und erblickte Alexei, der keine Anstalten machte, sein Tempo zu drosseln, und so breitete ich meine Arme aus, und er sprang mitten in sie hinein und klammerte sich um meinen Nacken, als ich ihn zu mir hochhob.
    »Ich wollte dich nur wissen lassen«, sagte er mit tränenerstickter Stimme, »also, ich wollte dir nur sagen, dass du mein Bruder sein kannst, wenn du möchtest. So lange, wie ich dein Bruder sein darf.«
    Dann löste er sich von mir und schaute mir direkt in die Augen, und ich lächelte ihn an und nickte. Ich öffnete den Mund, um zu sagen, ja, es wäre mir eine Ehre, sein Bruder sein zu dürfen, doch mein zustimmendes Nicken hatte ihm bereits gereicht, denn noch im selben Augenblick hatte er kehrtgemacht und war wieder ins Haus zurückgelaufen, in den Kreis seiner Familie.
    Jede Minute zog sich endlos hin.
    Ich hatte keine Uhr, und deshalb ging ich in ein kleines Café, um zu fragen, wie spät es war. Zehn nach zwei. Also musste ich noch einen halben Tag warten. Das schien mir unmöglich. Ich tigerte durch die Straßen, wobei ich von Sekunde zu Sekunde ungeduldiger und aufgeregter wurde. Nachdem ich, wie es mir vorkam, stundenlang ziellos durch die Straßen gewandert war, ging ich wieder in das Café, um noch einmal nach der Uhrzeit zu fragen.
    »Für was hältst du das hier, Junge? Für ein Auskunftsbüro?«, schrie der Mann hinter dem Tresen. »Verschwinde und such dir jemand anders, dem du auf die Nerven gehen kannst.«
    »Bitte«, sagte ich. »Können Sie mir nicht …«
    »Es ist kurz vor drei«, blaffte er mich an. »Und jetzt verschwinde, und lass dich hier ja nicht mehr blicken!«
    Drei Uhr! Es war noch nicht einmal eine Stunde verstrichen.
    Gott schien es jedoch gut mit mir zu meinen, denn als ich kurz darauf um die Ecke bog, sah ich zu meinen Füßen etwas aufschimmern, einen kleinen glitzernden Gegenstand. Ich blieb stehen und kniff die Augen zusammen, um zu sehen, worum es sich dabei handelte, doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte das Ding nicht finden. Also deshalb ging ich ein paar Schritte zurück, bis sich das Glitzern erneut sehen ließ. Ich heftete meine Augen darauf, und als ich es erreichte und mich danach bückte, zog ich einen Klipp aus dem Schmutz, in dem eine Handvoll Banknoten klemmte – nicht viele, aber mehr als ich seit wer weiß wie langer Zeit gesehen hatte. Irgendein Pechvogel musste sie auf der Straße verloren haben; es konnte erst ein paar Minuten her sein, vielleicht aber auch schon Wochen, das war schwer zu sagen. Ich blickte mich um, ob mich jemand beobachtet hatte, aber niemand sah in meine Richtung, und so stopfte ich mir das Geld in die Tasche, wobei ich mein Glück kaum fassen konnte. Ich hätte es natürlich einem Soldaten aushändigen können; ich hätte mich an den Stadtrat wenden können, um es seinem rechtmäßigen Besitzer zukommen zu lassen, aber ich tat weder das eine noch das andere. Ich tat, was jeder getan hätte, der so mittellos und hungrig gewesen wäre wie ich: Ich behielt es.
    »Es ist Viertel nach drei«, brüllte der Cafébesitzer, als ich erneut in seinem Lokal aufkreuzte. Diesmal hielt ich eine Banknote in die Höhe, um ihm zu zeigen, dass ich als zahlender Gast gekommen war. »Ah«, sagte er lächelnd, »das ist natürlich etwas anderes.«
    Ich nahm an einem der Tische Platz, bestellte mir etwas zu essen und zu trinken und zwang mich, nicht auf die Wanduhr und ihre langsam vorrückenden Zeiger zu starren. Jetzt, wo meine achtzehnmonatige Reise ein Ende gefunden hatte, wo Anastasia und ich uns endlich wiedersehen sollten, drängte sich mir mit aller Macht eine Frage auf: Was würde ich tun, wenn wir beide wieder zusammen wären?
    Die Bolschewiki würden ihr nicht so ohne Weiteres erlauben, das Ipatjew-Haus zu verlassen. Und selbst wenn sie es taten, wo sollten wir hingehen? Nein, wahrscheinlich würden wir uns nur für ein paar Minuten wiedersehen oder, wenn wir Glück hätten, für eine Stunde, und dann müsste sie wieder zu ihrer Familie zurückkehren. Und was würde ich danach tun? Jede Nacht zurückkehren, um sie zu sehen? Ein heimliches Rendezvous nach dem anderen planen? Nein, es musste eine andere Lösung geben.
    Vielleicht konnte ich sie alle retten, dachte ich. Vielleicht fand ich ja eine Möglichkeit, die ganze Familie außer Landes zu bringen, sie quer durch

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