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Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Raspail
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Mitternacht einen feierlichen Aufruf an die Nation verkünden wird.«
    Das war wieder alles. In einer Gesellschaft, die sich gewohnheitsmäßig von Worten berauschen läßt, muß diese Kürze Eindruck machen. »Sterben die Schwätzer in aller Stille?« fragte sich der Professor. Dann nahm er ein Buch, füllte sich ein Glas, zündete seine Pfeife an und wartete auf die Mitternacht …

4.
     

    Es war eine seltsame Nacht. Sie war so friedlich, daß New York sich nicht erinnern konnte, seit mehr als dreißig Jahren ähnliches erlebt zu haben. Der Central Park war wie leergefegt von den Tausenden von Kains. Man hätte jetzt blonde Mädchen zum Spielen hinschicken können, frische Mädchen mit kurzen Röcken und mit vor Freude geröteten Gesichtern, weil sie endlich einmal hinter einem Reifen herrennen können. Die Gettos der Neger und Portorikaner waren still wie Kirchen.
    Doktor Norman Haller hatte seine Fenster geöffnet. Er lauschte in die Stadt, hörte jedoch nichts. Gewöhnlich stiegen um diese nächtliche Stunde schreckliche Töne zu ihm hoch. Er nannte sie die »Höllensymphonie«. Verzweiflungsschreie, klappernde Absätze auf der Flucht, Schreckensrufe, Schüsse oder Feuerstöße, Polizeisirenen, Geklirr zerbrochener Scheiben, ängstliches Hupen und das viele Nein! Nein! Nein! Nein! hoffnungslos in die Nacht geheult.
    Dreißig Jahre lang war das schon so. Eine beachtliche Statistik, die von Jahr zu Jahr größer wurde, bis in den letzten Tagen die Kurve jäh absank und in dieser Nacht den unfaßbaren Nullpunkt erreicht hatte. Dreißig Jahre Ohnmacht, ohne daß sich dieserhalb jemand Vorwürfe machte. Als beratender Soziologe der Stadt hatte Doktor Norman Haller alles genau vorausgesehen. Seine einleuchtenden Berichte blieben wirkungslos. Keinerlei Abhilfe! Man ändert den weißen Mann nicht, und man ändert den schwarzen Mann nicht, solange der eine weiß und der andere schwarz ist und nicht alles in Milchkaffee aufgegangen ist. Sie haben, seit sie sich gesehen haben, eine Abscheu voreinander, und seit sie sich kennen, verachten sie sich. Vor dem Gesetz sind sie gleich, aber sie hassen sich unbändig. Der Soziologe stellte dies fest und lernte daraus. Die Stadt New York hat sein Monumental werk, das die verheerenden Schäden und ihre Folgen beschrieb, teuer bezahlt.
    Wie schön und behaglich ist doch die Wohnung Norman Hallers im fünfundzwanzigsten Stockwerk des vornehmsten Wohnviertels des Central Park! Von der Außenwelt abgeschnitten und vor dem Dschungel geschützt. Unten in der großen Halle befindet sich ein Dutzend bewaffneter Posten und überall Detektoren, unsichtbare Strahlen, wilde Wachhunde, Alarmanlagen und darunter eine Garage wie ein Haarsieb, eine Zugbrücke zwischen Leben und Tod, zwischen Haß und Liebe. Und darüber ein Elfenbeinturm, eine Mondstation, ein Luxusbunker. Doktor Norman Haller hatte sich in diesem Wirbelsturm eine heile Welt aufgebaut, und von dieser Sicht aus betrachtete er den Sturm, der den Sieg davontrug. Eisgekühlter Whisky und leise Musik dazu gestalteten die Sache erträglich.
    Da klingelt das Telefon. Der Bürgermeister von New York. »Norman! Alles hängt von den Franzosen ab, nicht wahr? Glauben Sie, daß die Leute dort noch fähig sein werden, eine Million armer, waffenloser Typen zu töten? Ich hoffe es noch nicht mal. Die Gettos von New York glauben es auch nicht, ebensowenig die von Chicago und Los Angeles … Sie sind alle Hammel geworden in ihren Tierkäfigen. Sie können nur noch Nachrichten im Rundfunk hören oder in ihren verrückten Kirchen singen und für diese Unglücksflotte beten. Sind Sie schon einmal von einer galoppierenden Hammelherde mitgerissen worden, Norman?«
    »Der Wolf will nicht mehr Wolf sein, das ist es wohl. Machen Sie es wie ich, Jack. Trinken Sie noch ein Glas, streicheln Sie lange die weiße Haut ihrer Gattin, und warten Sie ab.«

5.
     

    Wenn es bei der Bildung eines Volksmythus so etwas wie eine logische Entwicklung gibt, so muß man im belgischen Generalkonsulat in Kalkutta den Ursprung dessen suchen, was wir augenblicklich als Mythus des neuen Paradieses bezeichnen können. Dieses kleine unbedeutende Konsulat in einer alten Villa im Kolonialstil am Rand des Diplomatenviertels erwachte eines Morgens, als eine stillschweigende Menge vor dem Portal stand. Seit Tagesanbruch hatte der Sikh-Wachposten das Gitter des Portals geschlossen. Von Zeit zu Zeit steckte er den Lauf eines alte Gewehrs durch die Gitterstäbe, um die vordersten

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