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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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schätze Tolstoi.
    Wie hätte ich ahnen können, dass unsere romantische Affäre Alexander zum Verhängnis werden sollte? Yet each man kills the thing he loves, hat Oscar Wilde gesagt. Dieser Autor lebte zu Zeiten eines primitiven Anthropozentrismus, so lässt sich das Wort »man« erklären (und Sexismus war damals ohnehin im Schwange, insbesondere bei Homosexuellen). Davon abgesehen, traf er mit seiner Bemerkung ins Schwarze. Ich habe das Tier ins Verderben gestürzt, the Thing. Die Schöne hat das Biest gekillt. Und das Mordinstrument war die Liebe.
    Ich entsinne mich genau, wie jener Tag begann. Nach dem Erwachen lag ich noch lange auf dem Rücken und versuchte einen sehr schönen Traum aus den Tiefen zu heben, er wollte mir nicht wieder einfallen. Ich wusste, dass man in solchen Fällen liegenbleiben muss, reglos, die Augen geschlossen, in der Stellung, in der man aufgewacht ist, dann treibt der Traum manchmal von allein an die Oberfläche. Und so geschah es: Ungefähr eine Minute dauerte es, dann erinnerte ich mich.
    Ich hatte von einem phantastischen Garten geträumt, sonnenüberflutet, mit viel Vogelgezwitscher. In der Ferne ein Streifen weißer Sand, dahinter das Meer. Vor mir eine steile Felswand, darin eine Höhle, die von einer Steinplatte verschlossen war. Ich musste diese Platte beiseiteschieben, doch sie war schwer, ich kam nicht damit zu Rande. Erst als ich meine Kräfte zusammennahm, die Füße in den Boden stemmte, alle Muskeln anspannte, bekam ich sie vom Fleck. Die Platte rutschte zur Seite, ein schwarzes Loch tat sich auf. Es schlug mir feucht und muffig entgegen. Und auf einmal sah ich aus der Finsternis dort drinnen Hühner ans Licht gelaufen kommen – erst eins, dann noch eins und noch eins … Es wurden so viele, dass ich mich verzählte. Sie kamen in rauen Mengen, nichts konnte sie mehr abhalten herauszukommen, jetzt wo sie wussten, wo der Ausgang war. Mein Huhn war übrigens darunter – braun, an den Seiten weiß – ich winkte ihm mit der Pfote (im Traum hatte ich Fuchspfoten, wie während des supraphysischen Schubs). Es würdigte mich keines Blickes, lief einfach vorbei. Aber das kränkte mich überhaupt nicht.
    Was für ein sonderbarer Traum, dachte ich und schlug die Augen auf.
    An der Wand flimmerte ein Lichtfleck. Es war mein virtueller Platz an der Sonne, mir kampflos zugefallen – ein kleiner Spiegel lenkte den von oben einfallenden Lichtstrahl für mich an die Wand. Ich dachte an Alexander, an unsere Liebe. Sie war genauso unbezweifelbar wie dieser zitternde gelbe Sonnenfleck an der Wand. Heute würde zwischen uns etwas Unglaubliches geschehen, etwas wirklich Wunderbares, so viel stand fest. Ohne noch zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte, griff ich nach dem Telefon.
    »Hallo?«, hörte ich ihn.
    »Hallo. Ich möchte dich sehen.«
    »Dann komm her«, sagte er. »Aber wir haben wenig Zeit. Heute Abend muss ich wieder in den Norden fliegen. Drei Stunden haben wir.«
    »Das reicht mir«, sagte ich.
    Das Taxi kam langsam voran, die Ampeln schalteten ewig nicht um, und an jeder Kreuzung schien es mir, als könnte mein Herz sich nur noch Sekunden gedulden, bevor es mir aus der Brust sprang.
    Als ich aus dem Fahrstuhl trat, nahm er den Schleier vom Gesicht und schnüffelte.
    »An deinen Duft werde ich mich nie gewöhnen. Immer denke ich, dass ich ihn kenne. Und trotzdem zeigt sich jedes Mal, dass ich ihn anders in Erinnerung habe. Ich werde dir wohl ein paar Haare aus dem Schweif zupfen müssen.«
    »Und dann?«
    »Na … Ich stecke sie in ein Medaillon und trage es auf der Brust«, sagte er. »Dann kann ich es immer mal hervorholen und schnuppern. Wie ein Ritter im Mittelalter.«
    Ich lächelte. Seine Vorstellungen von Rittern im Mittelalter stammten offensichtlich aus Witzen. Und kamen wohl eben darum der Wahrheit recht nahe. Natürlich hatten die Ritter damals keine Schweifhaare in ihren Medaillons (woher auch?), sondern … Doch ansonsten war das Bild authentisch.
    Neben dem Sofa sah ich einen Gegenstand stehen, den ich noch nicht kannte: ein mit Glühlämpchen besetzter Glaskonus auf langem, dünnem Stiel. Stehlampe in Form eines überdimensionalen Martini-Glases.
    »Die ist ja toll. Wo hast du sie her?«
    »Von Rentierzüchtern geschenkt bekommen«, sagte er.
    »Von Rentierzüchtern!«, staunte ich.
    »Naja, genauer gesagt: Rentierzüchterlobby. Witzige Jungs, aus New York. Hübsch, nicht? Wie ein Libellenauge.«
    Ich bekam so wahnsinnige Lust, ihn anzuspringen, fest an mich

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