Das heilige Buch der Werwölfe
Schweif ihren Sitz hat. Das bloße Wort Überwertier hatte damals bewirkt, dass ich all seine Gedankengebäude als Schwachsinn verbucht hatte, eine Girlande stinkender Blasen aus dem Sumpf der Trivialesoterik. Doch zumindest ein Aspekt dessen, was hier soeben vorgefallen war, schien den Theorien des Lords Gewicht zu geben.
Kurz vor seiner Verwandlung war Alexander nach hinten umgekippt, als hätte ihn jemand am Schweif gezogen. Oder als wäre dieser plötzlich bleischwer gewesen. Jedenfalls war etwas geschehen, das ihn kalt erwischt hatte – und mit seinem Suggestionsgerät zu tun haben musste. Lord Cricket wiederum hatte gesagt, der Übergang vom Wolf zu dem, was er Überwertier nannte, geschehe dann, wenn die Kundalini bis in das äußerste Ende des Schweifes absacke. Und außerdem …
Das war das Unangenehmste. Er hatte außerdem erwähnt, es bedürfe auch noch einer »Invokation der Finsternis«, der spirituellen Einwirkung eines »übergeordneten dämonischen Wesens« …
Little me?
Schwer vorstellbar. Andererseits, warum sollten die Ausführungen des seligen Lords nicht auch ein zufälliges, von jenem Aleister Crowly entfachtes Fünkchen Wahrheit enthalten? Überall auf der Welt gab es Geheimkonzilien, mystische Rituale, nicht alles musste zwangsläufig Scharlatanerie sein. Und eins stand jedenfalls außer Frage: Bei dem, was hier passiert war, spielte ich eine maßgebliche Rolle. Als Katalysator für irgendeine unklare alchimistische Reaktion vielleicht. Wie Haruki Murakami schreibt: Viel Kraft geht von einer Frau nicht aus, doch das bisschen kann das Herz eines Mannes in Aufruhr bringen …
Am schrecklichsten war die Erkenntnis, dass das Vorgefallene nicht rückgängig zu machen war – für solche Dinge hat ein Werwesen ein sicheres Auge. Alexander würde nie wieder der Alte sein, das spürte ich. Ich musste darüber nicht spekulieren – ich wusste es mit dem Schweif. Es war, als stünde ich vor den tausend Scherben einer kostbaren Vase, die ich fallengelassen hatte. Da war nichts zu kitten.
Ich nahm meinen Mut zusammen und ging zu der Tür, hinter der er verschwunden war, klinkte sie auf.
Hier war ich noch nicht gewesen. Ein winziger Raum, eine Art Ankleidekammer. Darin ein kleiner Tisch, ein Sessel und ein im Halbkreis um die Wände herumlaufender Schrank. Auf dem Tisch stand ein kleines digitales Tonbandgerät. Er ließ zum x-ten Mal seinen Shocking-Blue-Song laufen, worin jemand der Sonne bis zum Ende der Zeiten zu folgen versprach.
Alexander war nicht wiederzuerkennen. Er hatte sich bereits umgezogen, trug nicht mehr die Generalsuniform, sondern ein dunkelgraues Jackett und einen schwarzen Rollkragenpullover. In solchem Aufzug hatte ich ihn noch nie gesehen. Die Hauptsache aber: Irgendetwas Unfassbares war mit seinem Gesicht geschehen. Die Augen schienen enger zu stehen, außerdem heller geworden. Und es hatte einen anderen Ausdruck: Verzweiflung, verhaltene Wut – wobei wahrscheinlich keiner außer mir die aufgesetzte Ruhe in diese Bestandteile hätte sezieren können. Er war es – und war es auch wieder nicht. Mir gruselte.
»Alex«, rief ich ihn leise an.
Er schaute auf.
»Erinnerst du dich an das Märchen von der feuerroten Blume?«, fragte er.
»Klar.«
»Jetzt verstehe ich erst den Sinn.«
»Nämlich?«
»Liebe führt nicht zur Verwandlung. Sie führt dazu, dass Masken fallen. Ich hatte gemeint, ich wäre ein Prinz. Und nun zeigt sich … So sieht sie aus, meine Seele.«
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten.
»So darfst du nicht reden«, flüsterte ich. »Es ist nicht wahr. Gar nichts hast du verstanden. Das hat mit Seele absolut nichts zu tun. Das ist wie … wie …«
»Wie Aus-dem-Ei-Schlüpfen«, sagte er traurig. »Zurückschlüpfen geht nicht.«
Was er da sagte, traf meine Empfindungen erstaunlich genau. Dass der Wandel unumkehrbar war. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wäre am liebsten im Fußboden versunken und in der Erde, tief und tiefer … Dabei schien er nicht mir die Schuld zu geben. Gab mir im Gegenteil zu verstehen, dass er den Grund bei sich selber suchte. Er hat doch ein edelmütiges Herz!, dachte ich.
Er stand auf.
»Mein Flieger nach Norden geht gleich«, sagte er und fuhr mir zärtlich mit den Fingern über die Wange. »Komme, was kommt. Wir sehen uns in drei Tagen.«
Er war schon nach zweien zurück.
Ich erwartete ihn nicht an diesem Morgen, auch mein Instinkt hatte mich nicht vorgewarnt. Das Klopfen an der Tür war
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