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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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zu drücken … Nur mit Mühe hielt ich mich zurück. Wenn ich noch einen Schritt auf ihn zumachte, so fürchtete ich, gäbe es zwischen uns einen Funkenschlag. Er schien Ähnliches zu fühlen.
    »Du bist heute so sonderbar. Hast du was genommen? Gesnifft?«
    »Hast wohl Angst vor mir!«, raunte ich, ihn von unten her anblickend.
    »Ha!«, sagte er. »Da hab ich aber schon beängstigendere Dinge gesehen!«
    Ich ging langsam um ihn herum. Er grinste und nahm im selben Bogen die Gegenrichtung, ohne den Blick von mir zu wenden, so als wären wir das Paar Fechter in dem einen Animatrix -Film, den er so gern sah und sich dabei mit seinem zottigen grauen Haken bei mir einkrallte (das war, nebenbei gesagt, ein echter »Anschluss« – anders als die Genickstöpsel im Film). Gleichzeitig blieben wir stehen. Ich trat vor ihn hin, legte ihm die Hände auf die Achselklappen, zog ihn an mich und küsste ihn zum ersten Mal, seit wir uns kannten, auf den Mund – nach Menschenart.
    Ich hatte noch nie so geküsst. Ich meine: leibhaftig, unter Einsatz des Mundes. Es fühlte sich komisch an, so feucht und warm, mit einem leichten Gegeneinanderschlagen der Zähne. Meine ganze Liebe legte ich in diesen ersten Kuss hinein. Und im nächsten Augenblick setzte bei ihm die Transformation ein.
    Am Anfang war alles wie sonst: Der Schweif kam aus dem Rückgrat gerutscht (besser gesagt: gefallen), streckte sich, zwischen ihm und Alexanders Kopf baute sich die unsichtbare Energiebrücke auf. Normalerweise dauerte es von da an nur noch Augenblicke, bis er Wolf war. Diesmal aber ging irgendetwas schief. Alexander zuckte wie im Krampf und kippte nach hinten um – als wäre sein Schweif mit einemmal so schwer geworden, dass er Übergewicht bekam. Arme und Beine wurden von einem heftigen Zappeln ergriffen (was furchtbar aussah, wie bei Leuten mit einem Schädeltrauma), und nun verwandelte er sich in Sekundenschnelle in einen schwarzen (nicht mal rassereinen, irgendwie verwahrlost, räudig erscheinenden) … Hund.
    Jawohl. Einen Hund. Von der Größe eines Schäferhunds, doch sichtlich eine Promenadenmischung. Seine unedlen Proportionen ließen vielerlei Blut erahnen; die Augen blickten klug, mit unverstellter Wut, beinahe menschlich, so wie bei den streunenden Kötern, die an den Metroeingängen zusammen mit den Obdachlosen nächtigen. Und außerdem die Farbe: bläulich-schwarz, mit einem Stich ins Violette. Haargenau die Farbe von Aslan Udojews Bart.
    Ob es an der Farbe lag oder an den aufgerichteten, wie hellhörigen spitzen Lauschern: Dieser Köter hatte etwas Teuflisches. Automatisch dachte man an über dem Galgen kreisende Krähenschwärme, irgendwelches Dämonenzeug. (Ich weiß, es klingt seltsam, wenn meinesgleichen so etwas sagt, aber es war so.) Das Gräulichste aber war – egal, ob es sich um eine Täuschung handelte oder um eine Gegebenheit – dieser von allen Seiten zugleich ans Ohr dringende dumpfe Ton: als stöhnte die Erde.
    Ich kreischte vor Schreck. Er prallte ab von mir, drehte sich zum Spiegel zuckte vor dem Anblick zurück und begann zu winseln. Dies war der Moment, in dem ich die Fassung wiedergewann. In dem mir dämmerte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, eine Katastrophe, und ich war schuld. Mein Kuss hatte die Katastrophe ausgelöst, jener Stromkreis der Liebe, den ich geschlossen hatte, indem meine Lippen sich an seinen festsaugten.
    Ich ging neben ihm in die Hocke, legte meinen Arm um seinen Hals, doch er riss sich los. Beim nächsten Annäherungsversuch biss er mir in die Hand. Nicht sehr – an zwei Stellen blutete es ein bisschen. Ich fuhr ächzend zurück. Der Hund lief zu einer Tür ins Nachbarzimmer, stieß mit den Pfoten dagegen und verschwand.
    Die ganze nächste Stunde blieb Alexander dort drinnen. Ich verstand, dass er allein sein wollte, und beherzigte diesen Wunsch. Dabei war mir mulmig zumute, ich hatte Angst, es könnte jeden Moment ein Schuss zu hören sein. (Schon einmal, aus ganz nichtigem Anlass, hatte er gedroht sich umzubringen.) Doch statt eines Schusses ertönte Musik. Er hatte I Follow the Sun aufgelegt. Als das Lied zu Ende war, spielte er es von vorn. Dann noch einmal. Seine Seele brauchte anscheinend eine Sauerstoffdusche.
    Ich saß immer noch auf dem Teppich vor dem Sofa. Kaum dass ich mich ein wenig beruhigt hatte, stellten sich mögliche Erklärungen für das Geschehene ein. Als Erstes musste ich an den toten Lord Cricket denken und seinen Vortrag über die Schlangenkraft, die im

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