Das heilige Buch der Werwölfe
Luft gepafft, und schon hat ers. Oder jedenfalls beinahe.
»Und hier das alles um uns her, was ist das deiner Meinung nach?«, fragte er, während er mir die Zigarre wieder abnahm. »Alles nur so Matrix-mäßig?«
»Nicht ganz.«
»Wo ist der feine Unterschied?«
»Bei Matrix gibt es eine objektive Realität – das ist dieser Speicher vor der Stadt mit den Körpern der Menschen, die das alles träumen. Sonst hätten die Portfolio-Manager ihr Geld für den Film bestimmt nicht locker gemacht, da nehmen sie es genau. Sonst ist alles wie in Matrix, nur eben ohne diesen Speicher.«
»Wie soll das gehen?«
»Es gibt den Traum, aber keinen, der ihn träumt. Die Träumer sind Teil des Traums. Manche sagen, der Traum träume sich selbst. Aber strenggenommen ist dieses ›selbst‹ auch schon wieder zu viel.«
»Verstehe ich nicht.«
»In Matrix waren alle mit etwas Realem verkabelt. Während in der Wirklichkeit alle irgendwie am GPRS hängen. Aber diese Technik ist genauso Butter in der Sonne wie sie selber. Hält nur so lange, wie sie dranhängen. Ist es vorbei, gibt es keine Hardware, die die Gerichtsvollzieher in ihre Listen aufnehmen könnten. Und keine Leiche, um sie zu beerdigen.«
»Das siehst du falsch. Man stolpert ständig drüber«, sprach er überzeugt.
»Wenn du meinst«, sagte ich. »Sollen die Virtuellen ihre Virtuellen begraben. Leichnam und Trauergäste verhalten sich nur zueinander real.«
»Wie kann das sein?«
Ich hob die Schultern.
»Sieh dich doch um.«
Er schwieg eine Zeitlang und dachte nach. Dann nickte er traurig.
»Schade, dass du damals nicht in der Nähe warst, um es mir zu erklären. Was soll ich jetzt noch damit … Das Leben ist gelaufen.«
»Armer schwarzer Kater!«, seufzte ich. »Und jetzt bitte den Montagepunkt auf die Position »Erlangung des Heiligen Geistes« bewegen.«
»Machst du dich lustig?«, fragte er. »Ja, mach dich ruhig lustig über mich, Füchslein. Es ist dumm, das gebe ich zu. Glaubst du selber denn an Gott?«
Die Frage brachte mich in Verlegenheit.
»Sag, bist du gläubig?«, bedrängte er mich.
»Werfüchse pflegen den Adonai-Kult«, gab ich diplomatisch zur Antwort.
»Pflegen – das meine ich nicht. Kannst du nicht sagen, ob du gläubig bist oder nicht?«
»Werfüchse haben einen eigenen Glauben.«
»Und woran glauben sie?«
»An ein Überwerwesen.«
»Das, von dem Lord Cricket sprach?«
»Lord Cricket hat nur davon läuten hören. Und das auch nur kurz. Vom Überwerwesen hatte der keine Ahnung.«
»Und wer ist es, dieses Überwerwesen?«
»Es existieren Auffassungen auf verschiedenen Ebenen. Auf der primitivsten Ebene ist es ein Messias, der kommt und den Werwesen erklärt, wie es läuft. Eine solche Interpretation ist beeinflusst von der Religion der Menschen. Sogar das auf dieser Ebene maßgebliche Profansymbol ist von den Menschen abgekupfert.«
»Und welches ist das auf dieser Ebene maßgebliche Profansymbol?«
»Der auf einer Spitze stehende fünfzackige Stern. Die Menschen verstehen ihn falsch. Schreiben einen Bocksschädel ein, sodass die beiden Zacken oben Hörner ergeben. Sie sehen den Teufel in allem, nur nicht im Spiegel und im TV.«
»Und was hat der Stern in Wirklichkeit zu bedeuten?«
»Er ist ein Werfuchskruzifix. Ein Andreaskreuz mit Querbalken für den Schweif. Wir haben selbstverständlich nicht vor, jemanden zu kreuzigen. Wir sind ja keine Menschen. Es handelt sich um ein Bußezeichen für die Werfuchssünden, deren hauptsächliche die Unwissenheit ist.«
»Und das Überwerwesen nimmt diese Sünden auf sich?«
»Ja. Es wird den Werfüchsen das Heilige Buch übergeben.«
»Was für ein Heiliges Buch?«
»Es heißt, darin würde das Urgeheimnis der Werwesen offenbart. Jedes Werwesen, das es liest, wird imstande sein, es fünfmal zu verstehen.«
»Und wie soll das Buch heißen?«
»Das weiß ich nicht. Das weiß noch keiner. Manche sagen, anstelle eines Namens wird es ein Zeichen tragen, ein magisches Pentagramm, das alle Schranken beseitigt. Aber das sind Legenden. Der Begriff Überwerwesen hat einen tieferen Sinn, der mit all diesen Ammenmärchen nichts gemein hat.«
Ich erwartete die Nachfrage nach dem tieferen Sinn, doch es kam eine andere.
»Was soll das heißen: ein Geheimnis fünfmal verstehen? Wenn es einmal kapiert ist, wozu dann noch viermal? Man weiß doch schon Bescheid.«
»Ganz im Gegenteil. In den meisten Fällen führt ein Verstehen dazu, dass du es kein zweites Mal verstehen wirst, und zwar
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