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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Liebe sonst wert? Oder sollte ich ihn etwa so allein im eisigen Glamour der florierenden Hölle, die gleich hinter dem Waldsaum anfing, im Stich lassen? Nein, ich musste ihm die Hand reichen und den Schweif, denn tat ich es nicht, es täte sonst keiner.
    Ich beschloss, ihm das wahre Wesen der Dinge zu offenbaren. Das erforderte jedoch ein paar Grundlagen, die neu für ihn waren – um auf ihnen, wie über Stufen, zum Höheren hinaufzugelangen. Schon diese Binsenweisheiten klar zu machen war schwierig.
    Dazu muss man wissen: Die Wörter, die die Wahrheit ausdrücken, sind jedem geläufig – und wenn nicht, hat man sie in fünf Minuten ergoogelt. Die Wahrheit selbst aber kennt so gut wie keiner. Sie ist wie ein Magic-Eye-Bild: ein chaotisches Gewirr aus farbigen Linien und Flecken, das, fokussiert man die Augen richtig, sich in ein räumliches Bild verwandeln kann. Dem Anschein nach supereinfach, doch dieses Fokussieren kann dem Betrachter kein noch so wohlmeinender Helfer abnehmen. Die Wahrheit ist genau so ein Bild. Sie ist vor aller Augen – selbst denen schwanzloser Affen. Doch nur die wenigsten sehen sie. Dafür sind es umso mehr, die vorgeben, sie zu wissen. Was natürlich Quatsch ist – Wahrheit ebenso wie Liebe ist nichts für den Verstand. Es ist dann meist nur irgendeine ausgeklügelte Spitzfindigkeit, die dafür gehalten wird.
    Einmal fiel mir ein winziges graues Säckchen ins Auge, das Alexander an einem ebenso grauen Band vor der Brust hing. Vermutlich war die Farbe dem Wolfspelz angepasst gewesen – das Säckchen sollte unsichtbar sein, wenn er zum Wolf wurde. Auf dem schwarzen Hundefell fiel es nun doch auf. Ich wollte ihn am Abend danach fragen, wenn er bei Laune war.
    Er hatte die Gewohnheit, vor dem Schlafengehen eine stinkende kubanische Zigarre zu rauchen, Montecristo No. 3 oder Cohiba Siglo IV, ich kannte die Namen, weil ich sie besorgen musste. Dies war die günstigste Zeit für ein Gespräch. Falls jemand es noch nicht weiß: Rauchen führt zum Dopaminausstoß im Hirn, ein Stoff, der für Wohlbefinden sorgt. Der Raucher nimmt dieses Wohlbefinden von seiner Zukunft als Kredit und baut es ab zu gesundheitlichen Problemen. Am Abend machten wir es uns auf der Schwelle unserer Behausung gemütlich, er paffte seine Zigarre an (drinnen zu rauchen erlaubte ich ihm nicht). Ich wartete, bis sie zur Hälfte aufgeraucht war, dann stellte ich meine Frage.
    »Was hast du da eigentlich in dem Säckchen vor deiner Brust, sag mal?«
    »Ein Kreuz.«
    »Ein Kreuz? Du trägst ein Kreuz?«
    Er nickte.
    »Und wozu versteckst du es? Muss man doch heute nicht mehr!«
    »Muss man nicht«, sagte er. »Aber es glüht mir auf der Brust, wenn ich mich verwandele.«
    »Tut es weh?«
    »Das nun nicht. Aber es riecht jedes Mal nach versengtem Fell.«
    »Wenn du magst, bringe ich dir ein kleines Mantra bei. Dann verbrennt dich kein Kreuz mehr.«
    »Na, so weit kommts noch, dass ich deine Höllenmantras aufsage, damit mir das Kreuz nicht die Brust verbrennt. Du weißt wohl gar nicht, was das für eine Sünde wäre?«
    Ich sah ihn argwöhnisch an.
    »Jetzt sag bloß noch, du bist gläubig?«
    »Was denn sonst. Natürlich bin ich gläubig.«
    »Mehr so als Reverenz vor dem kulturellen Erbe der Orthodoxie? Oder ganz ernsthaft?«
    »Die Fangfrage verstehe ich nicht. Es steht doch über uns in der Heiligen Schrift geschrieben: Sie glauben und zittern. Und das tue ich.«
    »Aber du bist ein Werwolf, Alex. Nach allen rechtgläubigen Begriffen kann es für dich nur den Weg in die Hölle geben. Wieso hast du dir ausgerechnet einen Glauben ausgesucht, der die Hölle für dich vorsieht?«
    »Den Glauben kann man sich nicht aussuchen«, erwiderte er verdrossen. »Genauso wenig wie das Vaterland.«
    »Aber Religion ist doch dazu da, um Hoffnung auf Erlösung zu machen. Oder worauf hoffst du?«
    »Dass Gott mir meine dunklen Punkte vergibt.«
    »Welche sollen das sein?«
    »Es gibt sie zur Genüge. Ich hab mein Bild von Gott verloren. Na, und zum Beispiel das mit dir jetzt …«
    »Wie?« Vor Empörung verschluckte ich mich beinahe. »Ich bin also gar nicht der große Lichtblick für dich, die Insel der Reinheit und Unschuld in deinem Wolfsleben, sondern im Gegenteil ein dunkler Punkt, für den du büßen musst? Für mich? Du böser Wolf?«
    Er zuckte nur die Achseln.
    »Ich liebe dich, das weißt du doch. Das hat nichts mit dir persönlich zu tun. Es ist eben nur, dass wir zwei …«
    »Ja?«
    Er stieß eine Rauchwolke aus.
    »… in

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