Das heilige Buch der Werwölfe
dieselben Gefühle weckte wie der mächtige nordische Wolf, von dessen Anblick allein der Atem stockte. Der Hund war lieb und nett, das schon. Er fand meine Sympathie – Leidenschaft ist etwas anderes.
Doch das tat überhaupt nichts. Wir hatten auf die vulgären Sexspiele der Menschen schon vorher verzichtet – nachdem wir gemerkt hatten, wohin wir durch das bloße Verflechten der Schweife abzuheben in der Lage waren. Darum hätte seine Metamorphose kein größerer Hinderungsgrund für unsere Leidenschaft sein müssen als, sagen wir, schwarze Unterwäsche anstelle von grauer. Aber das schien er nicht zu verstehen – in der Annahme, ich identifizierte ihn mit seinem physischen Behältnis. Oder der Schock von alledem und ein hinzukommendes irrationales Schuldgefühl waren so groß, dass er sich den Gedanken an Lust von vornherein verbot. Männer, ob mit oder ohne Schweif, sind psychisch sehr viel verwundbarer als wir, worüber ihr brutales Gebaren nur hinwegtäuscht.
Auch ich ergriff nicht die Initiative. Und dies nicht, weil er mir nun etwa zuwider gewesen wäre. Es ist üblich, dass der Mann den ersten Schritt tut, und ich befolgte diese Regel instinktiv. Vielleicht ist seine Stimmung nicht danach, dachte ich, er braucht noch Zeit, um zu sich zu kommen. Aber dann stellte er mir eine Frage, die seine wahren Probleme erkennen ließ.
»Du hast mir mal was von diesem Philosophen Berkeley erzählt«, sagte er beiläufig. »Der gemeint hat, dass alles nur in Form von Wahrnehmung existiert.«
»Hab ich.«
Tatsächlich hatte ich ihm die Sache zu verklickern versucht – nicht ohne Erfolg, wie es schien.
»Das hieße, Sex und Masturbation laufen auf dasselbe hinaus?«
Ich war verdutzt.
»Wie kommst du darauf?«
»Na ja. Wenn alles nur in Form von Wahrnehmung existiert, dann wäre es kein Unterschied, Sex mit einem Mädchen zu haben oder sich dieses Mädchen nur einzubilden.«
»Stimmt nicht so ganz. Berkeley sagt: Die Objekte existieren nur in der Wahrnehmung Gottes. Der Gedanke an ein schönes Mädchen ist dein eigener. Das Mädchen selbst ist Gottes Gedanke.«
»Beides sind Gedanken. Warum soll es o.k. sein, mit Gottes Gedanken zu schlafen, und mit dem eigenen Gedanken nicht?«
»Damit wären wir bei Kants kategorischem Imperativ.«
»Ich seh schon, bei dir ist alles in trockenen Tüchern«, brummte er unzufrieden und ging in den Wald.
Nach diesem Gespräch wusste ich, dass er dringend Hilfe benötigte. Und dies, ohne dass sein Selbstgefühl darunter litt.
Als er von seinem Waldspaziergang nach Hause kam und sich auf der Matte in der Ecke meines Zimmerchens ausstreckte, sagte ich: »Du, ich hab mal die DVDs durchgesehen, die ich mitgenommen habe. Da ist ein Film dabei, den du noch nicht kennst.«
»Und wie wollen wir den gucken?«
»Auf meinem Notebook. Der Bildschirm ist klein, die Qualität umso besser. Wir gehen einfach näher ran.«
Er sagte eine Weile nichts.
»Was ist das für ein Film?«, fragte er dann.
»In The Mood For Love von Wong Kar-Wai. Auf Hongkong der sechziger Jahre gemacht.«
»Und worum geht es?«
»Um uns«, sagte ich. »Zwei wohnen Tür an Tür. Und allmählich erfüllt sie Zärtlichkeit füreinander.«
»Machst du Witze?«
Ich nahm die Schachtel und las ihm den Werbetext vor:
»Su und Chow ziehen in einem Mietshaus nebeneinander ein. Ihre Ehepartner sind ständig auf Dienstreise. Chow erkennt die Handtasche, die Su von ihrem Mann geschenkt bekommen hat. Seine Frau besitzt auch so eine. Su wiederum erkennt Chows Krawatte wieder, die er von seiner Frau bekommen hat. Ihr Mann hat die gleiche. Ohne Worte wird klar, dass ihre Ehepartner sie miteinander betrügen. Was tun? Vielleicht sich einfach treiben lassen und hingeben der Süße des mood for love?«
»Ich verstehe nur Bahnhof«, sagte Alexander. »Aber von mir aus, geben wir uns hin.«
Ich stellte mein Notebook auf den Boden und schob die DVD ins Laufwerk.
Die ersten zwanzig Filmminuten sah er zu, ohne Reaktionen zu zeigen. Ich kannte den Film auswendig, deshalb schielte ich mehr zu ihm hin, als dass ich auf den Bildschirm blickte. Alexander wirkte ruhig und entspannt. Ich passte den Moment ab und rückte näher zu ihm, versenkte meine Pfote in sein Fell und zog ihn so herum, dass er auf der Seite zu liegen kam, mit dem Schweif zu mir. Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, knurrte er leise, sagte aber nichts.
Kein schlechter Satz über einen Werwolf: »knurrte leise, sagte aber nichts.« Aber so war es! Ich gab mir
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