Das heilige Buch der Werwölfe
»Und das nicht in irgendeinem Massagesalon. Du scharwenzelst ein, zwei Jahre um unsere Elite herum, dann hast du fürs Leben ausgesorgt.« In Russland wäre jetzt alles anders, hat er gesagt, überall wären Reformen im Gange, und die Leute hätten viel Geld. Stimmt das? Was ist das für eine Elite, um die man scharwenzeln müsste? Könnte ich das hinkriegen?
Außerdem sind, wie er sagt, Eure Rubel im Vergleich zum Dollar praktisch dasselbe wie unsere Baht, ein großer Kulturschock wäre also nicht zu befürchten. Schreib mir, wie die Lage bei Euch in Moskau ist und ob dort nicht ein Plätzchen für E Huli zu finden wäre.
Ich liebe Dich und denk an Dich,
Deine E
Schwesterlein E … Ich musste lächeln, als ich sie mir vorstellte: ihr ernstes, etwas mürrisches, sehr geradliniges Wesen. Sie war wohl von uns allen die Beste – und hatte darum allzeit die schwerste Last zu tragen. Den ganzen Befreiungskrieg über war sie an der Seite des Vorsitzenden Mao gewesen, hatte verschiedene VBA-Orden erhalten; als in China der Kapitalismus wiederauferstand, verbrannte sie auf dem Tiananmen-Platz ihr Parteibuch und wanderte nach Thailand aus. Nun möchte sie nach Russland kommen – in der Annahme, es wäre immer noch das Land des Roten Oktobers … O weh, das muss ich ihr ausreden. Sonst kommt sie tatsächlich noch angeflogen und bläst Trübsal in Eis und Schnee. Oder tut sich mit irgendwelchen Nationalbolschewisten zusammen. Um dann, wenn es so weit ist, dass die Nationalbolschewisten mit der Fa. Diesel Verträge schließen, wieder mal einen »ehrlichen Schlussstrich« zu ziehen und dafür lange Jahre hinter Schloss und Riegel zu brummen – wie oft hatten wir das mit ihr schon …
Sekundenlang suchte ich nach einem Bild, das auf sie Eindruck machen würde, dann hatte ich es, wie mir schien. Ich legte die Finger an die Tasten.
Grüß Dich, Rotschwänzchen
Du kannst dir nicht vorstellen, wie angenehm es ist, in dieser tief verschneiten Einöde eine Nachricht von Dir zu bekommen. Du sagst, Thailand sei Dir über? Dann bedenke doch, dass die Leute in den Ländern der Goldenen Milliarde das ganze Jahr sparen, nur um für ein paar Wochen in Dein Kokospalmenparadies zu gelangen… Dass das Leben in den Fünf-Sterne-Hotels sich von Deinem stark unterscheidet, ist mir klar. Doch Meer und Himmel sind dieselben, und genau ihretwegen kommen sie alle aus ihren Neongruften gefahren.
Du sagst, das Leben in Thailand sei aus den Fugen, weil die unschuldigen Eingeborenen von den Fremden mit ihrem giftigen Dollarschlamm begossen und so um die Freuden einfacher Arbeit betrogen werden. Deine Ansichten in allen Ehren, aber versuche die Sache doch einmal aus einem etwas anderen Blickwinkel zu sehen: Diese Wüstlinge fahren einander das ganze Jahr in ihren Büros an die Gurgel, damit sie genügend giftigen Dollarschlamm zusammenkriegen. So ist doch eher deren Leben aus den Fugen – was hätten sie sonst in Deinem Salon zu suchen, mein Augenstern? Billigtarife – jawohl, dagegen muss man kämpfen. Doch wozu diese kosmischen Verallgemeinerungen, die doch jedes Mal mit dem Mord an fünfzig Millionen Menschen enden?
Du fragst, wie hier die Dinge stehen. Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Die Hoffnung darauf, dass das braune Meer, das von allen Seiten gegen uns ansteigt, vielleicht doch nur Schokolade sein könnte, ist selbst bei den hartgesottensten Optimisten am Schmelzen. Zergeht auf der Zunge, wie die Werbefuzzis scharfsinnig zu präzisieren wüssten.
In Moskau werden Wolkenkratzer gebaut, tonnenweise Sushi gefressen und Milliardenklagen angestrengt. Doch dieser Boom hat mit der allgemeinen Wirtschaft wenig zu tun. Hier fließen einfach die Gelder aus dem ganzen Land zusammen und befeuchten kurz das städtische Leben, ehe sie in den Offshore-Hyperraum abwandern. Ich weiß noch, wie Du einmal sagtest, der Grundwiderspruch der Epoche sei der zwischen Geld und Blut. In Moskau wird er dadurch etwas abgemildert, dass das Blut einstweilen noch in weiter Ferne fließt, und das Geld hat immer gerade ein anderer. Aber das ist alles eine Frage der Zeit.
Das Leben hier ist so eigentümlich und unvergleichlich, dass es schon einen Propheten wie Oswald Spengler brauchte, um sein Wesen getreu zu erfassen. Spengler war der Ansicht, dass jeder Kultur ein verborgenes Prinzip zugrunde liegt, welches sich in einer Vielzahl äußerlich voneinander unabhängiger Phänomene artikuliert. So bestehe zum Beispiel ein tiefer innerer
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