Das heilige Buch der Werwölfe
den Norden.«
»Wozu?«
»Du hast mir gezeigt, wie du jagst. Morgen wirst du sehen, wie ich jage.«
Nie zuvor war ich mit einem Flugzeug geflogen, wie dieser Gulfstream Jet eines war. Nicht mal zu Gesicht bekommen hatte ich so etwas; auf Sonderflughäfen, wie der Upper rat sie benutzt, hatte es mich bisher nicht verschlagen. Und ich konnte kaum fassen, wie wenig Leute in der Maschine saßen – so als hinge die Flugsicherheit von der Anzahl der Passagiere ab.
Vielleicht ist das übrigens gar nicht so falsch. Jeder hat doch seinen Schutzengel dabei, und wenn sich in einem Airbus oder einer Boeing mehrere Hundert Leute drängen, dann dürften die unsichtbaren Schwärme geflügelter Leibwächter wenn schon nicht den Auftrieb der Tragflächen erhöhen, so doch einen Absturz zu verhindern wissen. Und dass viel häufiger kleine Chartermaschinen vom Absturz betroffen sind, mag umgekehrt auch daran liegen, dass in ihnen Newsmaker mit der Last des Bösen im Gepäck um den Planeten jetten.
Der Fluggastraum ähnelte einem mit weichen Ledersitzmöbeln ausgestatteten Raucherzimmer. Alexander saß neben mir. Außer uns gab es nur noch einen einzigen Fluggast im Abteil, und das war Michalytsch, der, im entferntesten Sessel sitzend, in irgendwelchen Papieren blätterte. Mit Alexander wechselte er kaum ein Wort – einmal nur hatte er eine Frage.
»Genosse Generalleutnant, hier in der Liste steht: Shaikh ul Mashaikh … Wissen Sie, was damit ist?«
Alexander dachte nach.
»Wenn ich nicht irre, fängt das bei vierzig Kilo Plastit an. Aber prüf es sicherheitshalber nach, wenn wir zurück sind.«
»Zu Befehl.«
Wir ließen Moskau hinter und unter uns, bald waren die Wolken dazwischen. Alexander wandte sich vom Fenster ab und holte ein Buch hervor.
»Was liest du?«, fragte ich. »Wieder einen Krimi?«
»Nein. Diesmal hab ich ein seriöses und gescheites Buch mitgenommen – wie du mir geraten hast. Möchtest du auch was zum Blättern haben?«
»Ja.«
»Dann schau mal in das hier rein. Damit du besser verstehst, was du nachher zu sehen bekommst. Es geht nicht exakt um unsere Angelegenheit, aber etwas sehr Ähnliches. Ich hab es extra für dich eingesteckt.«
Er legte mir ein abgegriffenes Buch auf die Knie, der Titel in roten Lettern: Russische Märchen . Ich hatte es neulich auf seinem Schreibtisch liegen sehen.
»Da liegt ein Lesezeichen drin«, sagte er.
Das Zeichen lag bei einem Märchen mit dem Titel Die kleine Chawroschetschka . Ich hatte schon viele Jahre kein Kinderbuch mehr in Händen gehabt, und mir fiel sogleich eine Merkwürdigkeit ins Auge: Der großen Schrift wegen nahm man die Wörter ganz anders zur Kenntnis als in Erwachsenenbüchern. Als wäre das, was sie besagten, von vornherein einfacher und klarer.
Das Märchen war eins von der traurigen Art. Die kleine Chawroschetschka war ein nördlicher Aschenputtel-Klon – nur dass sie sich statt von einer guten Fee von einer buntscheckigen Kuh helfen ließ. Jeden noch so schwierigen Auftrag, den die böse Stiefmutter der Kleinen auftrug, erledigte die Kuh für sie zur Zufriedenheit. Die gehässigen Schwestern bekamen heraus, auf welche Weise Chawroschetschka mit der Arbeit fertig wurde, und hintertrugen es der Stiefmutter. Die befahl daraufhin, die bunte Kuh zur Schlachtbank zu führen. Als Chawroschetschka davon hörte, erzählte sie es der Kuh. Die Kuh bat das Mädchen, nicht von ihrem Fleisch zu essen und ihre Knochen im Garten zu vergraben. Aus den Knochen wuchs dann ein Apfelbaum mit leise klingelnden goldenen Blättern, der Chawroschetschkas Schicksal zum Guten wendete: Sie schaffte es, einen Apfel zu pflücken, wofür sie mit einem Bräutigam belohnt wurde … Es fiel auf, dass am Ende weder die Stiefmutter noch die Schwestern bestraft wurden: Sie konnten keinen Apfel greifen, und so vergaß man sie einfach.
Das Märchen im anal-amphetaminfixierten Diskursrahmen zu analysieren oder in seiner »Morphologie« herumzustochern verspürte ich nicht die geringste Lust. Sowieso musste ich nicht lange herumrätseln, worum es in ihm wirklich ging – mein Herz sagte es mir. Es war die unendliche russische Geschichte, deren letzte Folge ich erst kürzlich, am Ende des vorigen Jahrhunderts, miterlebt hatte. Mir war, als kannte ich diese bunte Kuh persönlich, bei der sich die Kinder über ihren Kummer beklagen und die für sie Wunder der unkomplizierten Art organisiert und dann still unters Messer geht, um als Zauberbaum wieder aus der Erde zu wachsen –
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