Das heilige Buch der Werwölfe
zu verlieren.
»Der wievielte Abfall ist es an dieser Sonde?«
»Der fünfte«, sagte der Offizier. »Aus der Traum. Die Schicht ist leer gezapft. Wie Russland im Ganzen.«
Er schloss einen gedämpften Fluch an.
»Das werden wir sehen, ob im Ganzen oder nicht im Ganzen«, sagte Alexander. »Und hüte deine Zunge in Gegenwart einer Dame.«
»Die nachwachsende Generation?«, fragte der Offizier.
»Könnte man sagen.«
»Bravo! Auf Michalytsch kann man nicht mehr groß rechnen …«
Wir waren oben angelangt. Ich sah flache Gebäude in der Ferne, scharfe blaue und gelbe Lichtpunkte, gitterartige Metallkonstruktionen, hie und da Dampf- oder Rauchschwaden darüber. Der Mond beschien ein Labyrinth aus knapp über der Erde verlaufenden Rohren. Manche davon tauchten irgendwo im Schnee ab, andere reichten bis zum Horizont. Doch war dies alles viel zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen. Menschen konnte ich nirgends entdecken.
»Steht die Funkverbindung?«, fragte Alexander.
»Jawohl«, erwiderte der Offizier, »wenn sich was tut, melden sie sich. Wie stehen die Chancen?«
»Sehen wir mal«, sagte Alexander. »Wozu spekulieren? Lass uns die Sache lieber angehen.«
Der Offizier stellte den Koffer in den Schnee und öffnete ihn. Im Inneren befand sich ein Plastiketui, das in Form und Größe an eine üppige Honigmelone erinnerte. Schlösser klickten, die Melone klappte auf, und ein auf rotem Samt liegender Kuhschädel kam ans Licht, dem Anschein nach sehr alt, an mehreren Stellen geborsten und von Metallplatten zusammengehalten. Auch der untere Rand des Schädels war in Metall gefasst.
Als Nächstes entnahm der Offizier seinem Koffer einen zylindrischen schwarzen Gegenstand und zog ihn auseinander. Es entstand ein Teleskopstab ähnlich den gängigen Trekkingstö-cken, der oben in einer runden Verdickung endete. Der Offizier holte aus und stieß den Stock mit dem spitzen Ende in den Schnee hinein, prüfte anschließend, ob er fest genug steckte – das tat er. Sodann hob der Offizier den Schädel auf, setzte ihn mit dem Metallsockel auf den Knubbel am oberen Ende des Stabs und ließ ihn einrasten.
»Fertig?«, fragte Alexander.
Er hatte die Handgriffe des Offiziers nicht verfolgt, sondern in die Ferne gesehen, zu den Lichtern und den Rohrleitungen hin – so wie ein Feldherr das Gelände für die bevorstehende Schlacht observiert. Der Offizier richtete die leeren Augenhöhlen des Schädels auf das Erdölfeld aus. Was er mit dieser obskuren Kamera aufnehmen wollte, blieb unklar.
»Fertig.«
»Dann gehen wir.«
Wir liefen den Hügel wieder hinab zu den Leuten, die bei den Autos auf uns warteten.
»Was ist, Michalytsch«, sagte Alexander. »Willst du zuerst? Mach einen Versuch. Ich stärke dir notfalls den Rücken.«
»Bin gleich so weit«, sagte Michalytsch. »Nur noch ein paar Minuten. Ich geh so lange ins Auto, damit der Arsch mir nicht abfriert.«
»Ohne Ketamin geht's bei dir wohl gar nicht mehr?«
»Wie's beliebt, Genosse Generalleutnant«, sagte Michalytsch. »Aber ich würde lieber nach meinem System vorgehen. Bin nicht umsonst auf die intramuskuläre Methode umgestiegen.«
»Von mir aus«, brummte Alexander missmutig, »aber mach schnell. Wir werden ja sehen. Es wäre an der Zeit für dich, ohne Krücken laufen zu lernen, Michalytsch. Glaub an dich! Geh raus aus dir! Wolf-Flow! Was sollen wir machen, wenn sie deinen Dealer am Arsch kriegen? Soll das ganze Land deswegen auf dem Schlauch stehen?«
Michalytsch räusperte sich, sagte aber nichts weiter, lief hinter die parkenden Autos. Im Vorübergehen zwinkerte er mir zu. Ich übersah es geflissentlich.
»Countdown läuft!«, ertönte eine megaphonverstärkte Stimme. »Alles verlässt den Innenraum!«
Die Menschen, die sich im Lichtfeld der Scheinwerfer gedrängt hatten, verzogen sich eilig ins Dunkle hinter der Wagenfront. Nur der Offizier, der Alexander geholfen hatte, den Schädel auf dem Hügel zu installieren, blieb bei uns stehen. Da ich nicht wusste, ob der Befehl auch mich anging, schaute ich Alexander fragend an.
»Setz dich«, sagte er und deutete auf einen neben ihm stehenden Klappstuhl. »Gleich kommt Michalytschs Auftritt. Aber pass auf, dass du nicht lachen musst, er ist da empfindlich. Besonders wenn er sich gespritzt hat.«
»Ich werd dran denken«, sagte ich und setzte mich.
Alexander machte es sich auf dem Stuhl neben mir bequem und reichte mir seinen Feldstecher. Das Gehäuse war schneidend kalt.
»Wo muss ich hingucken?«,
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