Das heilige Buch der Werwölfe
jedem Jungen und jedem Mädchen einen goldenen Apfel! …
In dem Märchen steckte die unbegreifliche Wahrheit über eine äußerst betrübliche und mysteriöse Seite des russischen Lebens. Wie viele Male war diese selbstlose Kuh schon geschlachtet worden. Und wie oft war sie zurückgekehrt – mal als Zauberapfelbaum und mal als ganzer Kirschgarten. Aber wo waren die Äpfel geblieben? Nicht aufzufinden. Sollte man bei der United Fruit Company anrufen? … Lieber nicht. United Fruit, das war voriges Jahrhundert. Inzwischen irrt jeder derartige Anruf hilflos durch die Kabel, landet erst bei irgendeiner Company auf Gibraltar, die aber nun wieder einer Firma auf den Falkland-Inseln gehört, die von einem Amsterdamer Anwalt verwaltet wird, der die Interessen eines Trusts vertritt, hinter dem ein nicht näher genannt sein wollender Schecknehmer steht. Den nun freilich kennt auf der Rubljowskoje in Moskaus Speckgürtel jeder Hund.
Ich klappte das Buch zu, sah nach Alexander. Er schlief. Behutsam nahm ich ihm das »seriöse und gescheite Buch« vom Schoß, schlug es auf.
Ein Geldbaum sieht anders aus, als die leichtsinnigen Belletristen im vorigen Jahrhundert es sich ausmalten. In keinem Wunderland steht er und trägt dort goldene Dukaten, nein, er wächst als sprudelnde Erdölfontäne durch die Eiskruste des Permafrostbodens, ein brennender Dornbusch wie jener, der einst zu Moses sprach. Doch wiewohl Mosesse in genügender Zahl sich heute um den Geldbaum scharen, hüllt Gott sich in beredtes Schweigen … Wahrscheinlich schweigt er, weil er weiß: Lange wird der Baum nicht mehr so lustig lodern. Umsichtige Menschen werden kommen, einen Feuerlöscher auf die brennende Krone richten und den Baum zwingen, mit seinem schwarzen Stamm in ein kaltes Stahlrohr hineinzuwachsen, das sich durch ganz Deppenland zieht bis zu den Containerhäfen aller Chinesen und Japaner dieser Welt – so weit, dass der Baum bald nichts mehr von seinen Wurzeln wissen wird …
Ich las noch ein paar dergleichen bemüht schleierhafte Absätze weiter und spürte, wie der Schlaf mich übermannte. Klappte das Buch zu, legte es zurück auf Alexanders Knie. Den Rest des Fluges verschlief ich.
Nicht einmal die Landung bekam ich mit. Als ich die Augen öffnete, schwamm am Bullauge der über die Rollbahn manövrierenden Gulfstream-Maschine ein verschneites Flughafengebäude vorbei, das eher an eine Bahnstation erinnerte. An seiner Fassade war ein Transparent aufgespannt: Herzlich willkommen in Petrodestillewsk!
So weit das Auge reichte, nichts als Schnee.
An der Gangway wurden wir von ein paar Militärs in Empfang genommen, die Winteruniformen ohne Rangabzeichen trugen. Michalytsch und Alexander wurden wie alte Bekannte begrüßt, während mich eher schräge und, wie mir schien, verwunderte Blicke trafen. Doch immerhin: Als Michalytsch und Alexander ihre Offiziersmäntel erhielten, wurde auch ich mit warmer Kleidung bedacht, einer Militärwattejacke mit zartblauem Webpelzkragen und einer Pelzmütze mit Ohrenklappen. Die Jacke war so groß, dass ich buchstäblich darin versank.
Drei Fahrzeuge standen für uns bereit: schwarze Geländewagen, die einen durchaus Moskauer Eindruck machten, nur dass hier Uniformierte am Steuer saßen. Der Empfang verlief wortkarg, mit ein paar Begrüßungsfloskeln und kurzen Kommentaren zum Wetter hatte es sich. Vermutlich war bekannt, zu welchem Zweck die Moskauer Gäste angereist waren.
Die Stadt, die gleich hinter dem Flugplatz anfing, wirkte bizarr. Die Häuser erinnerten an die Mittelklasse-Eigenheime im Moskauer Umland – mit dem Unterschied, dass sie, irgendwie albern, auf etwas wie Hühnerbeinen standen. Die in den Permaboden gerammten Pfähle im Zusammenspiel mit den roten Hahnenkämmen ihrer Ziegeldächer riefen die Assoziation hervor, derer ich mich nicht erwehren konnte: Die Häuser wurden zu reihenweise angetretenen, allerdings vierbeinigen Hühnern, die ihre Filetteile samt schwarzem Türbürzel in die Höhe streckten. Wahrscheinlich hatte ich die Jagderlebnisse von gestern und den dabei erlittenen Schock noch immer nicht verdaut.
Zwischen den eurogenormten Hüttchen verkauften Händler ihre Ware von Zeltbahnen, die neben einem Motorschlitten der Marke Buran auf dem Schnee ausgebreitet waren.
»Womit handeln die?«, fragte ich Alexander.
»Rentierfleisch. Frisch aus der Tundra.«
»Werden denn sonst keine Lebensmittel geliefert?«
»Doch, doch, natürlich. Rentierfleisch ist einfach in Mode. Macht
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