Das Herz aus Eis
Zettel, keinen Brief. Ich stand vor einem Rätsel. Aber jetzt kommen mir Bedenken. Ich sah in dem Zimmer des jungen Herrn lauter Bilder von Mrs. Thurner, auch eines mit einer persönlichen Widmung.«
»Das wäre noch kein Beweis.«
»Nein, aber dann fiel mir auf, daß der Herr einen merkwürdigen Einkauf tätigte. Ich bin Spielwarenhändler und verkaufte ihm vor acht Tagen ein gutes Luftgewehr. Zuerst dachte ich: Was macht ein erwachsener Mann mit einem Luftgewehr? Aber dann sagte ich mir: Vielleicht hat er einen kleinen Neffen. Jetzt kommt mir das merkwürdig vor.«
Inspektor Jacklow hatte sich bei der Erwähnung des Luftgewehrs gespannt nach vorne gebeugt, doch nun ließ er sich wieder zurücksinken und stützte den Ellenbogen auf die Stuhllehne. Mit Luftgewehren schießt man kleine Bleikugeln ab oder spitze, gefiederte Geschosse. Im Körper der Toten hatte man jedoch nichts gefunden!
»Ihre Aussage ist interessant, Mr. …?«
»Vaeso!« beeilte sich der Kleine hinzuzufügen.
»Mr. Vaeso. Wir werden das nachprüfen. Wie ist der Name Ihres geflüchteten Untermieters?«
»Jack Fenton, angeblich aus Alabama.«
»Danke für Ihren Besuch, Mr. Vaeso.«
Als Mr. Vaeso den Raum verlassen hatte, wandte sich Jacklow an Collins. »Wie immer der große Unbekannte! Michael, fahren Sie ins Atelier, ich sehe mir nochmals das Haus und dann diesen Mr. Vaeso und seine Wohnung an.«
Als Michael Collins in der Kantine der ›Pearson-Film‹ erschien, hatte er seine Verhöre fix und fertig fein säuberlich ausgearbeitet. Nach einem prüfenden Blick über die erregte Menge fand er es jedoch klüger, sich zuerst mit dem Chef des Ganzen in Verbindung zu setzen. Er traf Samuel Pearson völlig gebrochen in seinem Büro an. Collins' Polizeiausweis ließ ihn jedoch von seinem Sessel hochschießen, und die ganze angestaute Wut brach aus ihm heraus.
»Weg!« schrie er, »einfach weg! Alle zwei! Mitten in den Aufnahmen, das kostet mich dreihundertsiebzigtausend Dollar. Das ist die Pleite, die absolute Pleite! Was übrig bleibt, ist ein Strick, um mich daran aufzuhängen! Diese Blamage, diese Gemeinheit … mitten in den Aufnahmen!«
Michael Collins fühlte ein merkwürdiges Kribbeln in seinen Adern. Zusammenhänge, gewagte Gedankenassoziationen jagten durch seinen Kopf. Wenn sich hier eine Linie verfolgen ließ, dann hätte man ja endlich eine Spur! Eine unverhoffte, phantastische Spur!
»Wer ist denn weg?« fragte er möglichst sanft und schaute sogar mitfühlend.
»Wer?!« brüllte Samuel Pearson. »Jules Combattier und Iren Shaw!«
»Ach! Das ist aber interessant!«
»Und der Balenco ist auch verrückt geworden! Er rast durch New York und sucht Combattier. Er hält ihn für den Mörder Valerias.«
»Was?« Collins war aufgesprungen und hatte Mühe, sich zu beherrschen. »Wie kommt Balenco dazu, einen solchen Verdacht zu äußern?«
»Eifersucht! Hirnverbrannter Neid! Combattier war mit der Thurner befreundet, während Rodrigo jämmerlich bei ihr abblitzte.«
»Und Iren Shaw?«
»Ist eine Freundin von Valeria gewesen. Bei der Nachricht von ihrer Ermordung fiel sie in Ohnmacht.«
»Und beide sind seit heute verschwunden?« fragte Collins und fühlte einen wilden Triumph in sich aufsteigen.
»Abgerückt! Ja! Mitten in den Aufnahmen! Gemeinsam eine Fahrt ins Blaue, die mich gute dreihundertsiebzigtausend Dollar kostet! Eine Schweinerei ist das!« brüllte Samuel Pearson und begann vor lauter Wut zu schwitzen.
In Michael Collins' Kopf wirbelten die Gedanken. Combattier und Iren Shaw waren Freunde der Thurner. Balenco bezichtigte Combattier des Mordes, worauf beide am nächsten Tag die Flucht ergriffen. Das war verdächtig. Aber noch sah er keinerlei Motive in der Gedankenkette.
»War Iren Shaw auf Mrs. Thurner eifersüchtig?« fragte er.
»Nein«, antwortete Pearson etwas ruhiger. »Iren und Jules verkehrten bei ihr, und Iren duldete es, daß Jules der Thurner den Hof machte. Es hat nie Streit zwischen den dreien gegeben.«
»Und Sie halten das auch für ausgeschlossen?«
»Aus Eifersucht? Bestimmt!«
Collins dachte einen Augenblick nach. Wer kennt schon genau das Seelenleben einer Frau? Die sanfteste Dulderin kann einmal zur schrecklichsten Rächerin werden. Denn die Grenzen des Leidens sind fein gezogen und so leicht zerreißbar wie ein kunstvolles Spinnennetz.
»Ich möchte mal mit Rodrigo Balenco sprechen«, schloß Collins seine Überlegungen laut ab.
»Balenco? Der rast durch die Landschaft und sucht Combattier.
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