Das Herz der 6. Armee
Ich werde noch ein Telegramm schicken, dachte er. Mit bezahlter Rückantwort. Er wollte sich abwenden und zurück zur Sperre gehen, aber das Mädchen hielt ihn am Ärmel fest.
»Wohin gehen wir?« fragte sie. »Ich weiß überhaupt nichts. Es hieß, ich würde abgeholt und in meine Dienststelle eingewiesen. Wohne ich in einem Hotel, oder hat man ein Zimmer für mich? Ich weiß überhaupt nichts …«
Dr. Körner kam es erst jetzt zum Bewußtsein, daß man ihn verwechselte. Er grüßte und stellte sich vor. Die Augen des Mädchens wurden groß und weit vor Hilflosigkeit.
»Sie sind Arzt?« sagte sie leise. »Aber … ich – ich soll doch im Sekretariat des Gouvernements anfangen. Warum –?«
»Sie verwechseln mich offensichtlich, mein Fräulein.«
»Sie sind nicht hier, um mich abzuholen?«
»Nein. Ich wollte meine Frau …«
»Ja, das sagten Sie.« Das Mädchen bekam blanke Augen. Plötzlich weinte es und setzte den Koffer wieder auf den Bahnsteig. »Wo soll ich denn hin?« sagte sie wie ein verlaufenes Kind. »Ich weiß doch gar nichts …«
Dr. Körner sah sich um. An der Sperre standen zwei Feldgendarmen. Ihre blanken Schilde vor der Brust leuchteten auf, wenn sie sich bewegten. Körner hob beide Arme und winkte. Die beiden sahen herüber, überlegten, einigten sich schließlich und kamen langsam näher. Sie grüßten ein wenig lässig und warteten ab, was der junge Assistenzarzt von ihnen wollte. Hier auf dem Bahnhof waren sie kleine Könige. Sie blockierten die Sperre wie Erzengel das Paradies, und es war ihnen immer eine tiefe Genugtuung, wenn selbst Offiziere ihre Marschbefehle vorzeigen mußten.
»Hier hat man ein Fräulein vergessen«, sagte Dr. Körner. »Sie sollte abgeholt werden, aber niemand ist gekommen.«
»Das kommt vor«, sagte der eine Feldgendarm.
»Ihre saudummen Bemerkungen können Sie unterlassen.« Dr. Körner war wütend. Zu Enttäuschung und Angst kam das Wissen, daß seine Zeit in Warschau bald abgelaufen war. Man sollte mit dem Leiter der Lazarettplanungsstelle sprechen, dachte er. Vielleicht kann er mich nach Köln beurlauben. Hier in Warschau sitzt man ja doch nur herum … nominell für die Beratungen aufgeführt, aber völlig ohne Meinung in dem Kreis der Planungsexperten. Was kümmert einen planenden Beamten die Erfahrung eines Frontoffiziers? Alles schon einkalkuliert, hatte man ihm gleich zu Anfang gesagt. Wir leben doch nicht hinter dem Mond, mein Bester. Bei der Truppe denkt man anscheinend, wir im Hinterland fressen und saufen und huren bloß. Auch wir arbeiten, zerbrechen uns die Köpfe zum Wohle der kämpfenden Truppe und leisten unseren Beitrag zum glorreichen Endsieg. Wer trägt denn die ganze Last des Nachschubs für Stalingrad? An wem liegt es, daß alles so vorzüglich klappt? Na also … überlassen Sie also alles uns, junger Mann … Und so war man froh, daß sich Dr. Körner mehr um das Kommen seiner Frau kümmerte als um den Aufbau eines großen Lazarettbereiches bei Kalatsch.
Die Stimme des Feldgendarmen riß ihn aus seinen Gedanken.
»Ihre Papiere«, sagte er zu dem weinenden Mädchen. Dr. Körner fuhr herum.
»Sie könnten auch höflicher sein.«
»Ich bin im Dienst, Herr Assistenzarzt.«
»Ach so. Das ändert allerdings vieles.«
Der Feldgendarm lief rot an, aber es war keine Scham, sondern offener Unwillen. In seinem Blick lag deutliche Wut. So etwas haben wir gern, sagten diese Augen. Junge Schnipse mit großer Fresse. Wollen den Weibern durch Forschheit imponieren. Heute abend haste sie im Bett, und wir schieben wieder Wache an der Sperre. Ein Scheißleben ist das.
»Gouvernement«, sagte der Feldgendarm. »Das ist eine private Dienststelle. Da sind wir nicht zuständig.«
»Aber das Fräulein kann doch nicht auf dem Bahnsteig übernachten«, rief Körner.
»Wenn der Herr Assistenzarzt helfen würden, ein Hotelzimmer zu suchen?« Der Feldgendarm grinste. Das willste doch bloß, mein Junge, sagte dieses Grinsen. Ein bißchen Theater, wie anständig du bist, hebt das Vertrauen der jungen Dinger. In Wirklichkeit juckt dir schon die Hose. Junge, das kennen wir. Geh mit ihr ins Hotel, und morgen ist noch immer Zeit, die zuständige Dienststelle zu suchen. Sieh, das Gute ist so nah …
»Es muß doch festzustellen sein …« Dr. Körner sah auf das hilflose, weinende Mädchen inmitten der Koffer. »Kommen Sie«, sagte er mit einem tröstenden Unterton. »Wir werden schon Ihr Domizil finden. Ich helfe Ihnen weiter.«
»Danke, Herr Doktor.« Das
Weitere Kostenlose Bücher