Das Herz der Hoelle
Saint-Michel-de-Sèze, weil es eines der renommiertesten und teuersten Privatinternate in Frankreich, aber vor allem sehr weit weg von Paris war. Es bestand keine Gefahr, dass ich mit meinen trübseligen Gedanken und meinen mystischen Krisen am Wochenende bei meinen Eltern hereinschneite. Luc dagegen besuchte das Kolleg, weil er als Waise ein Stipendium von den Jesuiten erhalten hatte, die das Internat führten.
Schließlich begründete dies eine letzte Gemeinsamkeit zwischen uns: Wir waren allein. Und so vertrieben wir uns die Zeit an den endlosen Wochenenden, an denen das Kolleg verwaist war, mit stundenlangen Gesprächen darüber, was wir später einmal werden wollten.
Wir gefielen uns darin, unsere jeweiligen Erweckungserlebnisse literarisch zu verklären, indem wir uns mit Claudel verglichen, dem sich Gott in Notre-Dame offenbart hatte, und mit Augustinus, der in einem Garten in Mailand das göttliche Licht empfing. Mein Erweckungserlebnis hatte ich im Alter von sechs Jahren zu Weihnachten. Als ich mein Spielzeug unter dem Tannenbaum betrachtete, rutschte ich buchstäblich in eine kosmische Spalte hinein. Ich hielt einen roten Spielzeugwagen in Händen, als ich plötzlich begriff, dass sich hinter jedem Gegenstand eine unsichtbare, unermessliche Wirklichkeit verbarg. Ich blickte kurz hinter die Kulissen der Erscheinungswelt, die ein Geheimnis verschleierten; von dort vernahm ich einen Ruf. Ich ahnte, dass dieses Mysterium die Wahrheit in sich barg. Obgleich – oder vielmehr: gerade weil – ich noch keine Antwort besaß. Ich stand am Anfang des Weges – und meine Fragen stellten bereits eine Antwort dar. Später las ich bei Augustinus: » Der Glaube sucht, die Vernunft findet … «
Lucs Erweckungserlebnis war anders als meines nicht diskret und intim, sondern explosiv und spektakulär gewesen. Er behauptete, mit eigenen Augen die Macht Gottes gesehen zu haben, als er seinen Vater auf einen Erkundungsgang ins Gebirge begleitete, wo er nach einer Höhle suchte. Das war 1978. Er war damals elf. Auf einer schimmernden Felswand hatte er das Antlitz Gottes gesehen. Und in diesem Moment hatte er begriffen, dass die Welt eine große Einheit bildete und Gott, der Herr, in allen Dingen war – in jedem Stein, jedem Grashalm, jedem Windstoß. Anders gesagt: Jeder Teil, selbst der winzig kleinste, enthielt das Ganze. Luc hatte diese Überzeugung nie mehr in Frage gestellt.
In Saint-Michel-de-Sèze hatte sich unsere Inbrunst – bei ihm eher laut und extrovertiert, bei mir eher leise – entfalten können. Nicht weil die Schule katholisch war – im Gegenteil, wir verachteten unsere Lehrer, die jesuitische Frömmler waren –, sondern weil die Gebäude des Internats um ein Zisterzienserkloster auf einer Anhöhe lagen.
Dort trafen wir uns. Vom Fuß des Kirchturms aus bot sich ein Rundblick auf das Tal. Der zweite, unser Lieblingstreffpunkt, lag unter dem Gewölbe des Kreuzgangs, der von Apostelstatuen gesäumt wurde. Im Schatten der verwitterten Gesichter von Jakobus dem Älteren mit seinem Pilgerstab oder von Matthäus mit seiner Axt ließen wir die Vergangenheit wieder lebendig werden.
Mit dem Rücken an die Säulen gelehnt, drückten wir unsere Zigarettenkippen aus und beschworen unsere Helden herauf – die ersten Märtyrer, die in die Welt hinauszogen, um das Wort Gottes zu verbreiten, und die in römischen Arenen ihr Ende fanden –, aber auch Augustinus, Thomas von Aquin, Johannes vom Kreuz und so weiter. Wir sahen uns in Gedanken selbst als Glaubenskrieger, Theologen, Kreuzritter der Moderne, die das Kirchenrecht von Grund auf erneuerten, die alten Kurienkardinäle auf Trab brachten und neue Strategien ersannen, um das Christentum weltweit zu verbreiten.
Während die anderen Internatsschüler Ausflüge in die Schlafsäle der Schülerinnen unternahmen, diskutierten wir endlos über das Mysterium des Abendmahls, redeten uns die Köpfe über das Zweite Vatikanische Konzil heiß, das uns nicht weit genug gegangen war. Ich roch wieder den Duft von geschnittenem Gras im Innenhof des Klosters, spürte das zerknüllte Papier von Gauloises-Päckchen in meiner Hand und hörte unsere pubertären Stimmen, die sich schrill überschlugen und schließlich in schallendem Gelächter endeten. Unser Getuschel endete immer mit den letzten Worten aus dem Tagebuch eines Landpfarrers von Georges Bernanos: » Was macht das schon? Allein die Gnade zählt. « Damit war alles
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