Das Herz der Hoelle
gesagt.
Die Orgeln von Notre-Dame holten mich zurück in die Gegenwart. Es war 17.45 Uhr. Die Montagsvesper begann. Ich stand auf. Da durchzuckte mich ein heftiger Schmerz. Ich erinnerte mich daran, wie ernst die Lage war: Luc zwischen Leben und Tod; ein Selbstmordversuch, eine Tat tiefster Verzweiflung.
Ich setzte mich wieder in Bewegung, halb hinkend, die Hand auf der linken Leiste. Ich hielt mich an der Heckler & Koch fest, die an meinem Gürtel schon lange die vorschriftsmäßige Manhurin ersetzt hatte. Ein Gespenst von einem Polizisten, dessen Schatten sich vor ihm herschlängelte, passend zu den langen weißen Stoffbahnen am Gerüst um den Chor, der restauriert wurde.
Draußen traf mich ein weiterer Schlag. Nicht wegen des Tageslichts, sondern aufgrund einer Erinnerung, die mich wie ein Dolch durchbohrte. Das schneeweiße Gesicht von Luc, der in lautes Gelächter ausbricht. Sein rötliches Haar, seine gekrümmte Nase, seine fein geschwungenen Lippen und seine großen grauen Augen.
In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Ich hatte das Wichtigste übersehen. Luc Soubeyras würde sich niemals das Leben nehmen. So einfach war das. Ein Katholik seines Schlags brachte sich nicht um. Das Leben war für ihn ein Geschenk Gottes, über das der Mensch nicht verfügen sollte.
KAPITEL 3
Zentrale der Pariser Kriminalpolizei, Quai des Orfèvres Nr. 36. Lange Flure. Dunkelgrauer Boden. Stromkabel, die an der Decke kleben. Büros mit schrägen Wänden. Ich nahm diese Räume schon gar nicht mehr bewusst wahr und bewegte mich darin wie ein Fisch im Wasser. Selbst der Geruch von Tabak oder Schweiß hätte meine Aufmerksamkeit nicht mehr wecken können.
Allerdings hatte ich ein leicht unangenehmes Gefühl von Nässe, das mich nicht mehr verließ, als bewegte ich mich in einem lebenden Organismus, der im Begriff war, sich aufzulösen. Das war natürlich nur eine Halluzination, die mit meinem Aufenthalt in Afrika zusammenhing. Meine Wahrnehmung hatte sich dort auf seltsame Weise verändert; feste Gegenstände erschienen mir als feuchte Lebewesen.
Durch die einen Spalt weit offen stehenden Türen schnappte ich unmissverständliche Blicke auf – alle wussten Bescheid. Ich ging schneller, um nicht Fragen nach dem Befinden Lucs beantworten oder Banalitäten über die Verzweiflung, in die uns unser Beruf trieb, austauschen zu müssen. Ich nahm die Post, die sich in meinem Fach angehäuft hatte, heraus und zog die Tür zu meinem Büro hinter mir zu.
Diese Blicke gaben mir einen Vorgeschmack auf das, was noch kommen würde. Jeder würde sich nach dem Motiv von Lucs Tat fragen. Eine Untersuchung würde eingeleitet werden. Die Jungs von der Abteilung Interne Ermittlungen würden sich einschalten. Zwar würde die Hypothese einer Depression vorrangig verfolgt, aber die Typen von der Internen Ermittlung würden in Lucs Vergangenheit herumschnüffeln. Überprüfen, ob er vielleicht spielsüchtig oder verschuldet war, ob er vielleicht krumme Geschäfte mit seinen Spitzeln ausgeheckt und sich strafbar gemacht hatte. Routineermittlungen, bei denen bestimmt nichts herauskam, die jedoch alles in den Schmutz ziehen würden.
Übelkeit, Lust zu schlafen. Ich zog meinen Trenchcoat aus, behielt aber trotz der Hitze mein Sakko an. Das vertraute Gefühl des Seidenfutters beruhigte mich. Eine zweite Haut. Nachdem ich mich auf meinen Stuhl gesetzt hatte, betrachtete ich meine dritte Haut: mein Büro. Fünf Quadratmeter ohne Fenster, wo sich die Akten fast bis an die Decke stapelten.
Ich warf einen Blick auf den Stoß von Schriftstücken, die ich im Vorbeigehen mitgenommen hatte. Vernehmungs- und Festnahmeprotokolle, Telefonrechnungen, Kontoauszüge von Verdächtigen, Beschlagnahmeverfügungen, die mir endlich von den Richtern bewilligt wurden. Und außerdem: die kriminalpolizeiliche Presseschau, die morgens und abends herauskam und vom Innenministerium erstellt wurde, sowie Fernschreiben, die die wichtigsten Kriminalfälle im Großraum Paris zusammenfassten. Das übliche Schlammbad. Und alles von meinen Stellvertretern mit Haftnotizen beklebt, auf denen sie die Erfolge und Misserfolge des Tages verzeichnet hatten.
Starker Widerwille. Nicht einmal meine Nachrichten wollte ich abhören. Stattdessen rief ich die Gendarmerie von Nogent-le-Rotrou an, der Stadt, die Vernay am nächsten lag, und verlangte, mit dem Capitaine zu sprechen, der die Rettungsmaßnahmen bei der
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