Das Herz der Hoelle
Sitz meines Wagens versteckt, dann wollte ich nicht länger jedes Mal den Umweg über den Parkplatz des Hauptquartiers der Mordkommission machen. Ich wollte unter den Flachreliefs der Kathedrale nach einem Versteck suchen, aber das wäre zu gefährlich gewesen. Schließlich stand ich zu dieser Freveltat. Hatten die Kreuzritter vielleicht ihre Schwerter abgelegt, als sie in den Jerusalemer Tempel eindrangen?
Im Lichtschein großer Kerzen ging ich den rechten Gang entlang, vorbei an Beichtstühlen. Mit jedem Schritt wurde ich ruhiger – das Halbdunkel im Innern der Kirche tat mir wohl. Ein Ort der Gegensätze: Ein schwerer Frachter aus Stein auf einem dunklen Meer, zugleich von betörend herber und würziger Leichtigkeit: Weihrauch- und Wachsdüfte und die kühle Frische von Marmor.
Der Warteschlange vor der Schatzkammer wich ich aus und gelangte am Ende des Chors in »meine« Kapelle – die Stätte der Andacht, in der ich jeden Abend betete.
Unsere liebe Frau der Sieben Schmerzen. Einige schwach erleuchtete Bänke, ein Altar, auf dem unechte Kerzen und liturgische Gegenstände standen. Ich schlüpfte in eine Bank auf der rechten Seite und ging bis ans Ende durch, wo ich mich ungestört fühlte. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, ertönte auch schon eine Stimme in mir:
»Schau dir die Penner an!«
Luc stand neben mir – Luc im Alter von vierzehn Jahren, hager und rothaarig. Ich war nicht mehr in Notre-Dame, sondern in der Kapelle der Realschule Saint-Michel-de-Sèze, im Kreis der Schüler der 9. Klasse. Mit seiner schneidenden Stimme fuhr Luc fort:
»Wenn ich Priester bin, stehen all meine Schäfchen. Wie in einem Rockkonzert!«
Lucs Mut beeindruckte mich. Mein Glaube erschien mir damals als ein unerhörter Makel, denn die anderen Schüler hassten den Religionsunterricht. Und da kam dieser Bengel und behauptete, Priester werden zu wollen – ein Priester mit einer Schwäche für Rock ’n’ Roll!
»Ich heiße Luc«, sagte er, »Luc Soubeyras. Ich hab gehört, dass du unter deinem Kopfkissen eine Bibel versteckst. Wie kann man nur so blöd sein. Aber du bist nicht allein, es gibt hier noch einen zweiten: mich.« Er faltete die Hände. » Selig sind diejenigen, die verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich. « Dann hielt er die flache Hand Richtung Chordecke, damit ich einschlug.
Das Geräusch unserer aufeinanderschlagenden Hände holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich blinzelte und befand mich wieder in meinem Refugium in Notre-Dame. Das kalte Gemäuer, die Weidenruten der Betstühle, die hölzernen Rückenlehnen … Wieder tauchte ich in die Vergangenheit ein.
An jenem Tag hatte ich den eigenwilligsten Schüler von Saint-Michel-de-Sèze kennengelernt. Er redete wie ein Wasserfall, war arrogant und sarkastisch, aber zugleich von einer glühenden Gläubigkeit. Es waren die ersten Monate des Schuljahrs 1981-1982. Luc, der in die 9b ging, war schon seit zwei Jahren auf dieser Schule. Er war groß und dürr, wie ich, aber auch nervös und hektisch. Abgesehen von unserer Statur und unserem Glauben hatten wir noch eine weitere Gemeinsamkeit: Wir trugen die Namen von Aposteln. Er den des Evangelisten, dem Dante den Beinamen »der Schriftgelehrte« gegeben hatte, weil sein Evangelium mit besonderer Kunstfertigkeit geschrieben ist. Ich den des Matthäus, des Zöllners und Gesetzeshüters, der Christus folgte und jedes seiner Worte aufzeichnete.
Doch das war es dann auch schon mit unseren Gemeinsamkeiten. Ich war in Paris geboren, im vornehmen 16. Arrondissement. Luc Soubeyras stammte aus Aras, einem Geisterdorf im Departement Hautes-Pyrénées. Mein Vater hatte in den siebziger Jahren in der Werbebranche ein Vermögen gemacht. Luc war der Sohn von Nicolas Soubeyras, einem Lehrer, Kommunisten und Amateur-Höhlenforscher, der in der Region bekannt war, weil er sich ohne Uhr oder sonstigen Zeitmesser tief in Gebirgshöhlen vorgewagte hatte und vor drei Jahren in einer dieser Höhlen verschollen war. Ich war als Einzelkind in einer Familie aufgewachsen, die Zynismus und Großspurigkeit zu absoluten Werten erhoben hatte. Wenn Luc nicht im Internat war, lebte er bei seiner Mutter, einer beurlaubten Beamtin und alkoholkranken gläubigen Christin, die nach dem Tod ihres Mannes durchgeknallt war.
So viel zu unserem sozialen Hintergrund. Auch unser Status als Schüler war unterschiedlich. Ich besuchte das Jesuitenkolleg
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