Das Herz der Nacht
stürzte zum Fenster. Die Wohnung nebenan brannte bereits lichterloh, und erst als der Wind den Qualm für einige Augenblicke vertrieb, konnte er die Gestalten an der Börse erkennen. Nein, das waren weder Karoline und Sophie noch Ileana, und nichts ließ darauf schließen, dass sie sich irgendwo in dieser Insel im Feuermeer befanden. Einen Augenblick gönnte er sich, dem kleinen Häuflein Männer dort drüben Respekt zu zollen, die einen nahezu aussichtslosen Kampf austrugen. Hatten sie zu Anfang vielleicht nur versucht, das Gebäude der neuen Börse und Symbol der aufstrebenden Kaufmannsstadt zu retten, so ging es nun um ihr Leben, das mit dem Fall der Börse zu Ende sein würde. Sie hatten zu lange gewartet. Einen Fluchtweg aus dem Feuerring gab es nicht mehr.
Saßen Karoline und Sophie auch hier irgendwo in der Falle? András wandte sich um. Es schien ihm, als könnte er durch das Knistern und Brausen ein Wiehern vernehmen. Dort drüben musste jemand ein paar Pferde zurückgelassen haben, die nun keinen Ausweg aus dem Feuer mehr fanden. Wieder die panischen Laute, die ihm so vertraut schienen. Er stutzte.
Das waren die Rufe seiner Rappen! Die Kutsche mit den Pferden musste in einem Stall oder Hof dieses Häuserblocks sein. Und vielleicht waren auch Karoline und Sophie dort drüben. Sein Blick wanderte an der Hausfassade entlang bis hinauf zum Dach, aus dem meterhoch die Flammen schlugen. Auch einige Wohnungen darunter brannten bereits lichterloh. Feuerzungen leckten aus den Fensteröffnungen und schwärzten die Wände.
Das sah nicht gut aus. Sollten sie wirklich dort drüben in diesem Haus sein, dann musste er sich beeilen. Mit einem riesigen Satz sprang András aus dem Fenster. Er setzte über einige schwelende Balken hinweg und huschte in die Gasse auf das verschlossene Hoftor zu.
Es war gespenstisch! Sie standen in der Mitte des weitläufigen Dachbodens. Karoline hielt Sophie fest umschlungen. Das Mädchen klammerte sich an seine Mutter. Es versuchte mit einer starren Miene, sich keine Furcht anmerken zu lassen, doch Karoline konnte die Angst in ihr spüren, die ihren schmächtigen Körper beben ließ. Oder war das nur der Widerhall ihres eigenen Zitterns? Fast war sie froh, dass Sophie das Szenario nicht sehen konnte. Oder war es noch schlimmer, nur das Dröhnen und Fauchen zu hören? Im glühenden Wirbel der mit heißer Asche beladenen Böen zu stehen, das Gefühl, die Haut würde sich in unzähligen Brandblasen aufblähen. Nur den heißen Schmerz in der Lunge zu spüren und die Hitze um und über sich, ohne die wie lebendige Teufel tanzenden Flammen zu sehen, die immer wieder durch die Luken hereinschlugen, die Wände hochleckten und bereits Löcher durch das Dach gebohrt hatten. Einige brennende Dachlatten gaben nach und brachen polternd wenige Schritte neben ihnen herab. Sophie zuckte zusammen.
»Er wird kommen«, flüsterte sie in einer nicht enden wollenden Litanei vor sich hin. »Er wird kommen und uns retten. Er hat es versprochen.«
Karoline antwortete nicht. Ihr Blick folgte Ileana, und sie fragte sich, was ihr mehr Schrecken einjagte: das Feuer oder die Vampirin, die mit ausgebreiteten Armen und einem irren Lachen zwischen den Flammen tanzte. Der zuckende Schein beleuchtete ihre Gestalt und verstärkte noch den grausigen Anblick ihrer verätzten linken Gesichtshälfte.
Plötzlich hielt sie in ihrem Tanz inne, als habe Gottes rettender Engel sie zu Stein verwandelt. Ganz langsam wandte sie den Kopf, ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen. Ihr Blick fuhr Karoline schmerzhafter als das Feuer durch den Leib. Mit einem riesigen Sprung stand Ileana unvermittelt neben ihnen und zerrte sie zu der Luke hinüber, die in Richtung Hof zeigte. Karoline konnte das klägliche Wiehern der Pferde hören. Ihr Blick saugte sich an dem Bild des Infernos fest, das sich vor ihnen ausbreitete. Heilige Mutter Gottes! Wie konnte der Herr im Himmel so etwas zulassen? Oder war das der Auftakt zum Jüngsten Gericht? Bei diesem Anblick konnte sich Karoline nicht vorstellen, dass in ganz Hamburg auch nur ein Stein auf dem anderen bleiben würde. Wie viele Opfer würde die Stadt zu beklagen haben? Kam es da auf die Pianistin aus Wien und ihre blinde Tochter noch an?
Sophie drückte die Hand ihrer Mutter. »Er ist da!«, wisperte sie mit einer solchen Erleichterung in der Stimme, dass sie kaum daran zweifeln konnte.
»Ja, er ist da«, wiederholte Ileana mit einem gehässigen Auflachen. »Nun kann der letzte Akt
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