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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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hinunter. Immer wieder versuchten sie nach unterschiedlichen Seiten auszubrechen und dem Geschirr zu entfliehen, das sie zusammenkettete. Der Phaeton schlingerte gefährlich. Der Pferdeknecht schrie, dieses Mal in unverhohlener Todesangst. Seine Hände krallten sich um den Sitz, fanden aber keinen Halt mehr. Als die Räder auf eine Unebenheit des Weges stießen – es mochte ein Stein oder auch eine Mulde gewesen sein –, machte der Wagen einen Satz, und der Groomwurde in hohem Bogen hinausgeschleudert. Therese hörte, wie er auf dem Weg aufschlug, und sein Wehklagen, das hinter ihr verklang.
    Sie selbst ließ keinen Laut über ihre fest zusammengepressten Lippen. Für weibisches Gejammer war jetzt nicht die Zeit. Sie musste irgendwie zu den noch immer panisch fliehenden Pferden durchdringen. Die Peitsche war ihren Händen entglitten, und nun hätte sie bei dem Schlag beinahe noch die linken Zügel verloren. Behutsam nahm sie die durchhängenden Riemen auf. Den Rücken gegen die gepolsterte Lehne gepresst, die Sohlen der Stiefel gegen das vordere Brett gestemmt, mühte sie sich, das Gleichgewicht zu wahren, während die Kutsche weiter auf das Lusthaus am Ende der Allee zuraste. Unvermittelt schlingerte das Gefährt zur anderen Seite. Die Pferde schienen sich darauf geeinigt zu haben, den Hauptweg zu verlassen und rechts auf die Wiese auszubrechen. Die riesigen Speichenräder der Vorderachse flogen ein wenig versetzt über die Kante am Rand des Weges. Therese wurde erst zur einen, dann hart zur anderen Seite geschleudert. Es gelang ihr noch, die erste Bewegung auszugleichen, doch der zweite Stoß hätte sie fast vom Sitz geworfen. Sie griff nach der Seitenlehne, um den Schwung abzufedern, und sah entsetzt, wie die linken Zügel aus ihrer Hand rutschten. Aus einem Reflex heraus ließ sie ihren Fuß unter dem langen Kutschiermantel hervorschnellen. Der Riemen schlang sich um ihren Stiefel. Der Phaeton jagte nun über die Wiese. Er sprang in immer wilderen Sätzen. Fürstin Kinsky beugte sich vor, um die Zügel aufzunehmen, als die Sitzbank ihr einen derben Stoß versetzte und sie zur Seite warf.
    Therese spürte, wie sie das Gleichgewicht verlor. Schon konnte sie das winterlich braune Gras unter den fliehenden Rädern auf sich zukommen sehen. Es dauerte sicher nicht länger als einen Wimpernschlag, und dennoch erkannte Therese mit erschreckender Klarheit, dass sie nun stürzen und es vermutlich ihr Leben kosten würde. Nicht nur, dass das Gefährt besonders hoch gebaut und das Tempo halsbrecherisch war. Die Zügel umschlangen noch immer ihren Knöchel und würden sie gnadenlos mit sich reißen. Doch statt die Lider zu schließen und sich mit einem letzten Gebet Gottes Gnade zu ergeben, riss sie die Augen trotzig auf. Hilflose Wut überschwemmte sie.
    Da war er wieder. Der Schatten. Der sie und die Pferde erschreckt hatte. Und dann fühlte sie zwei Hände. Zwei eisenstarke kalte Hände. Schon im Fallen rissen sie ihren Körper hoch. Zurück auf den Wagen. Als würde sie nicht mehr wiegen als eine Stoffpuppe.
    Es ging zu schnell und war zu verwirrend, als dass Therese es in diesem Moment hätte begreifen können. Erst später in der Nacht und am anderen Tag, als sie Muße hatte, über den Vorfall nachzudenken, löste sich die Sequenz in einzelne Bilder auf. Allerdings blieb der Vorfall auch dann unbegreiflich. Schlichtweg unmöglich. Und dennoch musste es so geschehen sein. War sie etwa nicht noch am Leben und erfreute sich ohne jede Verletzung bester Gesundheit?
    Fürstin Kinsky grübelte unentwegt und versuchte das Rätsel zu ergründen, ohne ihm auf die Spur zu kommen. Es war einfach nicht erklärbar und dennoch wahr.
    Unvermittelt saß ein Mann auf dem Kutschbock des Phaetons, riss die Fürstin mit starker Hand hoch, löste den Zügel von ihrem Fuß, nahm ihr den anderen aus der Rechten und fing die noch immer galoppierenden Pferde ein. Sie gehorchten augenblicklich, als wäre nichts geschehen, und trabten in bewundernswertem Gleichklang zurück zur Allee. Vor dem nächtlich verlassenen Lusthaus am Ende der Praterpromenade hielt der Fremde den Wagen an. Die Pferde standen ruhig im Schein des Mondes da, als wären sie aus Stein gemeißelt.
    Therese schüttelte den Kopf, als müsse sie den Rest von Schläfrigkeit vertreiben, den ein intensiver Traum in schweren Gliedern zurücklässt. Nein, sie hatte nicht geträumt, und sie war auch nicht von den roten Speichenrädern ihres neuen Gefährts zu Tode gequetscht

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