Das Herz der Puppe (German Edition)
Zimmer.
»Das ist ein schöner Clown«, sagte er.
Nina saß an ihrem Schreibtisch und schrieb ein Namensschild.
»Balbuzie«, las der Vater. »Das ist italienisch und heißt stottern .«
»Ja? Na, bei mir und Widu wird er bald nicht mehr stottern«, sagte Nina und malte eine lachende Sonne über den Namen.
Die Flügel der Seele
Es war eiskalt, und Ninas Vater kam von der Beerdigung eines Kollegen zurück. Er sah erschöpft und ein bisschen blass aus. Die Mutter kochte ihm einen kräftigen Kräutertee. Nina war in ein Comic-Heft vertieft und horchte erst auf, als der Vater von der trauernden jungen Witwe zu reden begann.
»Sie stand in der klirrenden Kälte wie versteinert, eine weinende Statue«, erzählte er. »Kein Wunder, mit zwei kleinen Kindern.«
Nina versuchte sich das vorzustellen und hatte großes Mitleid mit den Kindern.
»Wir wollten unserem Kollegen Jochen die letzte Ehre erweisen und haben den Sarg von der Friedhofskapelle zum grab getragen«, erzählte der Vater. »Aber das war nicht so einfach, wie wir dachten. Dabei waren wir zu viert. Jochen war zu Lebzeiten eine schmale, dürre gestalt, ›Spargeltarzan‹ haben wir ihn im Scherz genannt. Aber jetzt? Meine güte, ich dachte, ich breche zusammen. Der Sarg war aus leichtem Holz, aber es fühlte sich an, als hätte Jochen eine halbe Tonne Blei verschluckt. Sieh dir meine Hände an, noch jetzt, zwei Stunden später!«
Ninas Vater zeigte seine Handflächen, und sie waren tiefrot.
»Tote sind schwer«, sagte die Mutter, als wäre das das Normalste von der Welt.
»Und warum?«, wollte Nina wissen.
»Das ist einfach so. Als mein großvater starb, wollte Oma nicht, dass er auf der Treppe vor der Haustür liegen blieb, wo er zusammengebrochen war. Ich war noch ein junges Mädchen und gerade zu Besuch, und Oma wollte, dass ich ihn ihr ins Haus tragen helfe. Du hast meinen großvater nicht gekannt, aber er war genauso klein und schmächtig wie mein Vater, und trotzdem konnten wir ihn zu zweit nicht hochhieven. Ich sehe die Oma noch vor mir, wie sie gleichzeitig weinen und über unsere hilflosen Versuche lachen musste. Es war herzzerreißend. Als uns die Puste ausging, baten wir einen starken Nachbarn um Hilfe, und zu dritt gelang es uns, ihn ins Haus zu tragen.«
»Aber warum ist Opa auf einmal so schwer geworden?«, fragte Nina.
»Keine Ahnung«, sagte die Mutter.
Nina ging in ihr Zimmer, wo Widu gerade aus dem Fenster sah.
»Was machst du?«, fragte Nina.
»Nichts. Ich sitze nur da. Ich beobachte seit einer Stunde den Jungen da unten. Er versucht verzweifelt, seinen Drachen zu retten, der ihm im Baum hängen geblieben ist, und die Passanten gehen achtlos an ihm vorbei und tun so, als wären sie selber nie Kinder gewesen.«
»Warte!«, sagte Nina. Dann lief sie in die Küche und kam kurz darauf mit ihrem Vater zurück, der aus dem Fenster sah und sogleich wusste, was zu tun war.
»Du bleibst hier und schaust zu, es ist eiskalt draußen«, sagte er und holte die große Teleskopstange, mit der die Spinnweben entfernt wurden, die manchmal oben in den Zimmerecken saßen.
Nicht lange, dann hatte Ninas Vater den Papierdrachen vom Baum geholt. Der Drache war sogar noch heil, und der Junge hüpfte vor Freude.
»Dein Vater ist geschickt«, sagte Widu.
Nina nickte stolz und legte sich zusammen mit der Puppe auf ihr Bett.
»Weißt du, warum tote Menschen schwerer werden?«, fragte sie nach einer Weile. Die Frage beschäftigte sie immer noch.
»Weil sie keine Seele mehr haben«, sagte Widu.
»Keine Seele?«
»Der Junge, bei dem ich war, hatte auch keine Seele, aber er war trotzdem noch am Leben«, wandte von seinem Platz oben auf dem Bücherregal her der Clown Balbuzie ein.
Widu sah erstaunt zu ihm hoch. »Du stotterst ja gar nicht mehr«, sagte sie, dann wandte sie sich wieder Nina zu. »Du musst dir die Seele wie etwas mit unsichtbaren Flügeln vorstellen, die euch Menschen immer ein wenig schweben lassen. Wenn ein Mensch stirbt, fliegt die Seele fort, und er fällt zu Boden wie ein Sack Kartoffeln. Plumps!«
»Der Junge ist ein Sack, stimmt genau!«, rief Balbuzie begeistert.
Nina lächelte. »Plumps«, wiederholte sie.
»Plumps!«, sagte sie noch einmal, als sie am nächsten Morgen ihr Müsli in sich hineinschaufelte und an Widus Worte dachte, während der Vater seine Zeitung las. Als sie ihm dann von den Flügeln der Seele erzählte, legte er die Zeitung zur Seite und sah sie mit großen Augen an.
Widu hat große
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