Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Das Hohe Lied des französischen Schulsystems
Im Sommer 1918 beginnt für das Analphabetenkind aus der Rue de Lyon ein neues Leben. Albert wird eingeschult, zunächst in die École maternelle, dann in die Grundschule von Belcourt. Das Räderwerk des Bildungssystems der Grande Nation erfasst den Jungen und wird ihm den Weg nach Paris ebnen. Seinem Lehrer Louis Germain bleibt Camus zeitlebens verbunden, ihm widmet er seine Nobelpreisrede: «Ohne Ihre Erziehung und Ihr Beispiel wäre nichts davon geschehen.» Dem staatlichen Schulsystem Frankreichs und seinen strengen Lehrern hat er seine Karriere als Schriftsteller zu verdanken. Die Schule ist sein Nadelöhr in das Himmelreich der Gebildeten, der Bücher und Zeitungen, der Dichter und Intellektuellen. Er wird das nie vergessen. «Die staatliche Schule preisen!» steht in seinem letzten Manuskript am Rand vermerkt.
Louis Germain – Franzose, Soldat, Kriegsteilnehmer, Lehrer und Klarinettist an der Oper von Algier – widmet sich dem vaterlosen Schüler mit besonderer Aufmerksamkeit. Dass er selbst das Inferno des Weltkrieges überlebt hat und in die Heimat zurückgekehrt ist, kommt ihm wie ein Wunder vor. Jetzt möchte er als Lehrer die Vaterstelle der gefallenen Kameraden einnehmen. Seine pädagogische Mission lautet, die Jungen zu anständigen Bürgern der Dritten Republik zu erziehen – auch mit Hilfe eines Lineals, das ihm als Schlagstock dient. Die Züchtigungen finden am Lehrerpult vor den Augen aller Schüler statt. Den Kopf zwischen den gespreizten Beinen des verehrten Lehrers, muss der Straffällige den Hintern herausstrecken, auf den dann die brennenden Schläge des Pädagogen niedergehen.
Für alle, «die sich für den interessieren, der einmal mein lieber kleiner Albert war», wird Louis Germain 1958 einige Erinnerungen zu Papier bringen. Man erfährt, dass Camus, als er 1920 in die Primarschule kam, schon ein paar Buchstaben lesen und schreiben konnte und sehr schnell einer der besten Schüler wurde. Er sei still, konzentriert, nachdenklich und gutherzig gewesen. Am Ende des ersten Schuljahres, so Germain, konnte sein Schüler fließend lesen und schreiben. Der Lehrer mag sich und seine strenge Erziehung hier selbst loben. Germain beschreibt einen ernsten, zurückhaltenden und unermüdlich fleißigen Camus von kleinem Wuchs, der wenig und langsam sprach und viel beobachtete. Auf einem Klassenfoto aus dem Jahr 1923 sieht man Germains Zöglinge stolz und aufrecht, Brust raus, Kopf hoch. Camus steht in der letzten Reihe.
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In der Grundschule von Belcourt
Glaubt man Camus’ eigenen Erinnerungen in seinem hinterlassenen autobiographischen Roman, dann wurde er in der Primarschule zusammen mit arabischen Kindern unterrichtet, doch die Klassenlisten und das Klassenfoto sagen etwas anderes: Die überwältigende Mehrheit derer, die mit ihm in den Genuss der französischen Staatsschule kommen, sind Söhne von kleinen Kolonisten, den
Pieds-noirs
des Armenviertels Belcourt. Nur im Fußballverein von Montpensier, in dem er es zum Torwart bringt, spielt er mit arabischen Kindern.
Für den jüngsten Sohn der Putzfrau Catherine Camus, der bei seiner Einschulung kein korrektes Französisch sprach, bedeuteten diese Jahre eine Initiation in eine vollkommen fremde Welt. Sein lebenslanger, manchmal etwas steifnackiger Respekt vor der französischen Kultur und Sprache hat hier seinen Ursprung. Sein gesprochenes Französisch wird immer etwas rau, beiläufig und kurzatmig klingen. Die klangvollen, breit ausgesungenen, schier endlosen Satzkaskaden des französischen Kulturbürgertums wird er nicht imitieren können – ja, er wird es gar nicht wollen.
Von den Methoden des Lehrers, der die Schüler zwingt, seinem Unterricht mit verschränkten Armen zu folgen, zeigt sich Camus noch als Erwachsener rückhaltlos begeistert. Germain, so beteuert er, habe es verstanden, den Unterricht lebendig und amüsant zu gestalten. Die Lehrbücher kamen aus Paris und erzählten Geschichten von einer Welt, in der man Wollmützen trug, durch tiefen Schnee einem Haus entgegenstrebte, in dem ein warmes Kaminfeuer prasselte und in schönstem Französisch über die Freizeitvergnügungen des kommenden Wochenendes parliert wurde.
Camus’ Schulbiographie ist die eines edlen Wilden, der begierig jedes bisschen Druckerschwärze aus dem sagenhaften Jenseits des Bildungsbürgertums aufsaugt und am Abend zu Hause Wort für Wort nachbuchstabiert. Camus wird von der
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