1689 - Engel der Ruinen
An einem Ende des Schlachtfeldes floss ein schmaler Bach. Sein Wasser hätte eigentlich rot gefärbt sein müssen, aber die Leichen lagen oben auf der Böschung.
Vor dem Tod waren sie Soldaten gewesen. Jetzt nur noch starre Körper, die sich auf der verbrannten Erde verteilten. Sie lagen um die Panzer herum, in den Schützengräben und auch dort, wo knorriges Buschwerk das träge dahinströmende Bachwasser flankierte.
Es gab nur das Geräusch des fließenden Wassers. Ansonsten herrschte Totenstille. Ja, es war alles tot. Endgültig und ewig.
Das alles sah der Engel, der über das Schlachtfeld glitt. Er selbst war eine leicht düstere Gestalt mit mächtigen Schwingen, die irgendwie an die eines Flugdrachen erinnerten. Seine Gestalt wirkte etwas schmächtig im Vergleich zu den Flügeln. Er war nicht nackt, sondern mit einem Gewand bekleidet, das jedoch kaum auffiel, weil es eng am Körper lag.
Sein Blick war nach unten gerichtet, als wollte er jedes Detail auf dem Schlachtfeld in sich aufsaugen. In seinem Gesicht bewegte sich nichts. Es sah aus wie aus Stein gehauen und danach poliert, denn es gab einen leichten Glanz ab.
Der Engel setzte seinen Weg fort. Er lauschte dem leisen Plätschern des Wassers. Ansonsten wurde die Totenstille von keinem anderen Geräusch unterbrochen.
Oder doch?
Seine sensiblen Sinne hatten noch einen anderen Laut wahrgenommen. So deutlich, dass er sogar das Plätschern übertönte, und der Engel wusste sofort, dass es sich um einen menschlichen Laut handelte. Abgegeben von einer Männerstimme.
Es war niemand da, der sprach. Der Laut bestand aus einem herzerweichenden Stöhnen, und der Engel wusste sehr genau, wohin er sich begeben musste, um die Quelle zu finden.
Das Echo erreichte ihn aus der unmittelbaren Nähe des Bachbetts. Er schaute noch nicht hinein, denn er befand sich noch zu weit entfernt.
Für den Engel stand fest, dass es einen Überlebenden gegeben hatte. Trotzdem änderte er seine Haltung nicht und auch nicht das Tempo seines Flugs.
Er glitt an den Rand der Böschung heran und senkte den Blick. Früher war das Wasser klar gewesen. Diese Zeiten waren vorbei. Eine schmutzige Brühe strömte durch das schmale Bett. Auch hier hatte der Krieg seine Spuren hinterlassen.
Im Boden der Böschung krallte sich das graue Gestrüpp fest. Auf den blattlosen Ästen lag eine Staubschicht, und dort, wo das Gestrüpp endete, lag der Körper des Mannes.
Er war bis dicht ans Wasser gerollt. Auch wenn das Gewässer nicht tief war, er hätte trotzdem ertrinken können, denn er war nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft zu helfen.
Der Engel blieb auf seiner Position. Er sah das Gesicht des Mannes nicht, weil das auf der Seite lag. Auch Blut war in seiner Umgebung nicht zu sehen. Nur das herzerweichende Stöhnen wehte ihm entgegen, und er wusste, dass dieser Mensch unter starken Schmerzen litt, die ihn in den Tod begleiteten.
Ja, er würde sterben. Da gab es keine andere Möglichkeit. Niemand befand sich in seiner Nähe, der sich um ihn hätte kümmern können. Hilfe würde er nicht bekommen. Es gab keine lebenden Menschen mehr in der Nähe und erst recht keinen Arzt.
Der Engel überlegte. Es gab zwei Möglichkeiten. Er konnte seinen Weg fortsetzen oder sich in die Nähe des Verwundeten begeben und sich um ihn kümmern.
Er entschied sich für die zweite Möglichkeit. Es war ihm egal, auf welcher Seite dieser Soldat gekämpft hatte, letztendlich war er ein Mensch, und nur das zählte. Er war eine Kreatur, der geholfen werden musste, und das würde der Engel tun.
In seinem Gesicht, in dem die Augen sehr groß waren, verzogen sich die Lippen zu einem Lächeln. Die Bewegungen der Flügel waren kaum zu sehen, als er über den Rand der Böschung glitt und im Zeitlupentempo dem Verwundeten entgegenschwebte.
Dicht neben ihm sank er zu Boden. Das Bachwasser floss nur eine Griffweite entfernt an ihm vorbei. Jetzt sah er die graue Brühe deutlicher, in der einiges an Abfall schwamm. Der Engel schaute nicht näher hin. Er wollte gar nicht sehen, was sich da im Wasser befand.
Der Soldat hatte ihn nicht bemerkt. Er lag auf der rechten Seite. Nach wie vor drang das tiefe Stöhnen aus seinem Mund. Am Rücken war keine Verletzung zu sehen, sie musste sich an der Brust befinden.
Der Engel fasste zu. Behutsam drehte er den Mann um, sodass dieser auf den Rücken fiel und den Blick auf seine Brust freigab.
Jetzt war es zu sehen!
Der Stoff der grauen Uniform war zerfetzt. Ein Geschoss hatte den Mann
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