Das Herz der Puppe
wollten, Herr Moritz blieb unerschütterlich: ›Bringen Sie das Kind mit, dem die Puppe gehört, dann werden wir sehen.‹
Das sprach sich natürlich herum, und die Leute fanden das Verhalten von Herrn Moritz befremdlich, aber was sollten sie machen? Bald brachten sie, wenn sie nach einer verlorenen Puppe suchten, gleich ihre Kinder mit.
Nur manchmal versuchte jemand, Herrn Moritz reinzulegen, brachte etwa ein Kind aus der Nachbarschaft mit und behauptete, die Puppe gehöre ihm. Dann verschwand Herr Moritz nur kurz im Puppenzimmer, kam zurück und sagte: ›Das Kind hier ist nicht der Besitzer. Die Puppe will nicht zu ihm.‹
Er irrte sich nie, und die Leute staunten. Niemand wusste, dass Herr Moritz über die wundersame Fähigkeit verfügte, die Sprache der Puppen zu verstehen. Wenn also jemand behauptete, sein Kind sei der Besitzer einer Puppe, ging Herr Moritz in das Puppenzimmer, ließ die beschriebene Puppe durch ein kleines guckloch in den Warteraum schauen und fragte sie, ob sie wirklich zu dem Kind da draußen zurückwolle.
So war es auch bei mir. Ich saß bei ihm auf dem Regal, er kam und sagte: ›Widu, da möchte dich ein Mädchen zurückhaben – schaust du mal, ob das deine Freundin ist?‹ Dann trug er mich zum guckloch. Ich habe dich gesehen und wäre am liebsten durch das viel zu kleine Loch zu dir hinausgeschlüpft, aber er sagte: ›Warte erst mal hier!‹, dann ging er hinaus und kam mit dir wieder herein. Ich habe deinen Namen gerufen, und du bist zu mir hergesprungen und hast mich genommen und an dich gedrückt und geküsst.«
»Ich habe nicht geglaubt, dass ich dich jemals wiederfinde«, gestand Nina. »Ich habe tagelang nach dir gerufen.«
»Ich habe dich gehört, aber ich konnte da ja nicht weg. Ich war mir nur ganz sicher, dass du mich findest. Logisch!«, sagte Widu zur Bekräftigung und glaubte doch selber nicht, was sie sagte, denn zwischendurch war auch sie ohne Hoffnung und verzweifelt gewesen, und das wusste sie noch ganz genau.
»Du mit deinem logisch ! Aber sag, warum liegen eigentlich nur Puppen in dem Zimmer?«
»Weil es sein Zimmer ist«, erklärte Widu. »Die Puppen kommen nicht in einen Lagerraum, sondern werden fürsorglich und liebevoll in seinem eigenen Zimmer untergebracht. An der Wand gibt es ein langes Regal, auf dem die Puppen liegen, stehen, kauern und sitzen. Herr Moritz setzt sich, sooft er Zeit hat, zu den Puppen und spricht mit ihnen, und kurz nach Mitternacht legt er sich ins Bett, und die beiden Puppen, die er seit seiner Kindheit lieb hat, liegen neben seinem Kopf. Sie sind sehr stolz auf ihn.
Und wird Herr Moritz nachts einmal geweckt, was selten vorkommt, soviel ich weiß, dann ist er immer fröhlich, weil er weiß, dass er gleich einem Menschen eine Freude bereiten wird. Ich habe es selbst erlebt, und die anderen Puppen haben mir eine ähnliche geschichte erzählt:
Eines Nachts klingelte einmal ein alter Mann, der sehr einsam war, bei Herrn Moritz.
›Ich brauche meinen Schlaf, aber ich kann ihn nicht mehr finden‹, sagte er.
›Dann komm herein, wir suchen zusammen‹, sagte Herr Moritz.
Dann suchten die beiden eine Weile und riefen nach dem Schlaf, als wäre er ein Hund. Schließlich ließ sich der Mann erschöpft aufs Sofa sinken und schlürfte den heißen Kräutertee, den Herr Moritz ihm mit zwei großen Löffeln Honig serviert hatte. Schon kurze Zeit später streckte sich der gast auf dem Sofa aus, und Herr Moritz erzählte ihm von seinen Fundbüroabenteuern, bis der Mann gähnend flüsterte: ›Ich glaube … ich … habe ihn … wiedergefunden.‹
›Dann genieße ihn‹, erwiderte Herr Moritz, warf eine leichte Decke über den gast und ging selbst zurück ins Bett.
Ein einzigartiger Mensch, dieser Herr Moritz, ein echtes Kind. Er kann stundenlang einfach nur daliegen und vor sich hin träumen. Dann wieder vertieft er sich so sehr in eine Sache, dass du denkst, er schneidert Maßanzüge für Flöhe.«
»Maßanzüge für Flöhe«, wiederholte Nina, »das wird meiner Mama gefallen.«
Begegnung mit
alten Bekannten
Der Schnee fiel in großen Flocken und verzauberte den Anblick der Bäume und Dächer, die unter einer weißen Decke lagen. Alles verlor seine Kanten, wurde rund und sanft.
Unten auf der Straße stritten sich zwei Nachbarn. Der eine streute Unmengen Salz und schippte jede Spur von Schnee weg, der andere wollte den Schnee vor dem Haus liegen lassen. Er holte sogar noch Schnee aus dem garten und baute einen großen
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