Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
I mmer nur daran denken, wovon Goethe völlig durchdrungen war: Das Leben ist – in jeder Beziehung – Handlung , also nicht die Abfolge starrer Formen, sondern eine Gesamtheit sich harmonisch wiederholender Handlungen. »Geprägte Form, lebendig sich entwickelt.«
Was fehlt in diesem besonderen neuen Jahr? Sehr viel: zum Beispiel, zu meiner Überraschung, Goethes Urworte. Orphisch .
Ich lese Spengler , nach fünfzehn Jahren zum zweiten Mal. Er ist zeitgemäß.
Der Rabbiner, der sich nebenan versteckt hält, kommt in der Abenddämmerung des zweiten Tages der russischen Besatzung zu mir herüber und vertraut mir mit bleichem Gesicht an: Gerade vorher sei ein russischer Soldat bei ihm gewesen, er habe nach Deutschen gesucht. Der Rabbiner versteckte sich, wie gewöhnlich, in einer Kammer, der Russe wurde der Frau gegenüber zudringlich, tat ihr aber nichts an; dann durchstöberte er das Haus, fand den Rabbiner in der Kammer und wollte wissen, wer er sei. Der zitternde Mann beantwortete die Fragen auf Deutsch und hielt ihm immer wieder seinen Ausweis hin, auf dessen Foto er einen Bart trägt – jetzt ist er rasiert. Der Soldat sagte, so der Rabbiner, immerfort: »Ura, Ura!« Da nahm er seine Uhr vom Handgelenk, und der Soldat sagte: »Kapitano!« und lief mit der Beute davon. Er kam auch nicht mehr zurück.
Ich nehme dem Rabbiner das Versprechen ab, dass er sich fortan, sollte jemand läuten, nicht mehr versteckt und dass er den Russen vor allem nicht auf Deutsch antwortet, weil ihm dann passieren könnte, dass man ihn schon erschießt, während er sich ihnen noch vorstellt. »Ich bitte Sie, was für eine Enttäuschung ist das für uns!«, klagt er. Ich beruhige ihn. Diese Enttäuschung ist unbegründet; es sei denn, die Juden hätten von den Russen eine Art begeisterten Philosemitismus erwartet. Die Russen sind nämlich überhaupt keine Philosemiten; sie kennen nur einfach keine Rassenfrage. Für sie ist es einerlei, ob jemand Ukrainer ist oder Tscheremisse oder Jude. Und sie sehen in den Juden jetzt zweifellos auch Verbündete.
Solche Uhrengeschichten ereigneten sich im Dorf häufiger; die Offiziere bestrafen die Uhrensammler streng, wenn sie davon erfahren. Die Soldaten wollen Uhren, Füllfederhalter, Alkohol und Frauen; andere Dinge interessieren sie nicht. Von ernsterer Gewaltanwendung hab ich nichts erfahren. Aus verlässlicher Quelle hörte ich die Geschichte vom Besuch eines Frontsoldaten, die dem Erlebnis des Rabbiners ganz ähnlich war. Und dem hiesigen Schuster, der ein auffallend dicker Mann ist, nahmen sie den Ledermantel ab, gaben ihm dafür aber einen gebrauchten anderen Mantel und zweihundert Pengő. Und ein Landser wollte dem dicken Mann seinen Ehering vom Finger ziehen: »Burschui, Burschui«, wiederholte er; doch als sich sein Vorgesetzter näherte, lief er davon. Auf der Landstraße nehmen sie den Leuten auch Fahrräder ab, die sie dann eine Weile benutzen und nachher jemand anderem geben. Geld interessiert sie nicht; sie haben aber viel davon. Um die Gunst des hiesigen Dorfhürchens zu gewinnen – erst jetzt habe ich erfahren, dass es hier auch so etwas gibt! –, bezahlten sie fünftausend Pengő.
Ihr Verlangen nach Frauen ist natürlich; junge Männer, die seit Jahren unterwegs sind, ohne Frau. Viel hängt natürlich auch vom Verhalten der Frauen ab und davon, ob sie ihnen Wein anbieten.
Ihre Leidenschaft für Uhren ist da interessanter. Was wohl dahintersteckt? Gibt es in Russland nicht genügend Uhrenfabriken? Vielleicht auch etwas anderes: Ist in den in einer rationalisierten Maschinenzivilisation aufgewachsenen russischen Massen plötzlich das Zeitgefühl erwacht? Sicher ist, dass es einen russischen Bauern vor hundert oder auch vor fünfzig Jahren gar nicht so sehr interessierte, ob er eine Taschenuhr hat oder nicht.
Der Mensch des Ostens ist der Zeit gegenüber ziemlich gleichgültig, ist Optimist, wie Schubart sagt, lebt mit Weitsicht und Gleichmut, die Sekunde interessiert ihn nicht, im Zusammenhang mit dem Leben empfindet er keine Panik, ist nicht in Eile und zerteilt die Zeit nicht in kleinste Einheiten. Jetzt lese ich Spenglers Erklärung der Zeit; der Mensch in der griechischen und lateinischen Antike war den Zeiteinheiten gegenüber ziemlich neutral; die mechanische Uhr ist eine deutsche Erfindung des zwölften Jahrhunderts, und ihre Perfektionierung hängt mit den Rekordsehnsüchten und der Angst des Menschen jener westlichen Kultur zusammen, die vom Gefühl des
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