Das Herz der Puppe
klammerten sich noch an den Zweigen fest. Sogar dem ersten Schnee hatten sie getrotzt, doch jetzt riss der eisige Dezemberwind sie fort. Als wollte er sie für ihre Standhaftigkeit belohnen und ein letztes Mal Karussell fahren lassen, wirbelte er sie hoch in den Himmel, höher als alle gebäude der Stadt, bevor er sie am Ende doch zu Boden warf, wo sie sich zu nassen, dunklen Klumpen ballten.
Ninas Eltern waren für eine Woche nach Wien gereist, um den siebzigsten geburtstag eines Onkels der Mutter zu feiern. Nina wollte nicht mit, weil sie so lange Fahrten mit dem Auto langweilig fand und den Onkel insgeheim noch mehr. Dazu war sie seit Tagen erkältet und hustete, da wollten die Eltern lieber nichts riskieren.
So kam wieder einmal Tante Olga. Sie kümmerte sich um Nina und übernachtete im gästezimmer, das gleich neben Ninas Zimmer lag. Dort stand praktischerweise auch der alte Fernseher, den Tante Olga gerne einschaltete, weil sie mit dem nagelneuen großen Apparat im Wohnzimmer nicht zurechtkam.
»Der Bildschirm ist so dünn, dass ich Angst habe, er zerbricht, wenn ich laut lache«, sagte sie.
Da Tante Olga nicht gut hörte, drehte sie den Fernseher so laut auf, dass Nina in ihrem Zimmer alles mithören konnte.
»Da läuft wieder diese langweilige Quizsendung. Lass uns auf den Balkon gehen und die Straße beobachten!«, schlug Widu vor.
»Aber draußen ist es kalt«, sagte Nina.
»Ach was! Puppen sind Allwetterwesen«, erwiderte Widu lachend.
»Das bin ich auch«, behauptete Nina plötzlich.
»Aber ich nicht!«, rief Balbuzie dazwischen, »Ich komme schließlich aus Italien. O sole mio! «, sang er mit klarer, schöner Stimme.
Der Balkon war trocken, der Regen streifte nur das Balkongeländer. Aber das Thermometer an der Mauer zeigte null grad.
Lulu erschien kurz hinter dem großen Fenster ihres Wohnzimmers, winkte und schlang dann die Arme um den Körper zum Zeichen, dass es ihr draußen viel zu kalt wäre. Als Nina ihr mit einem kleinen Tänzchen zeigte, dass ihr die Kälte egal sei, tippte sich Lulu mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. Du hast wohl einen Vogel, sollte das heißen, dann winkte sie fröhlich und verschwand.
»Lass mich auf dem geländer balancieren!«, bat Widu.
»Hast du keine Angst hier oben im dritten Stock?«
»Papperlapapp, ich war einmal bei einem Mädchen in New York, da stand ich auf dem geländer im sechsundachtzigsten Stock. Von so hoch oben werden die Menschen zu Ameisen.«
»Im sechsundachtzigsten Stock?«, staunte Nina. Das war fast dreißigmal höher als ihr Haus und mehr als zehnmal höher als das Hochhaus gegenüber, das acht Stockwerke hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie Widu glauben sollte.
»Ja«, sagte die Puppe. »Natürlich sind wir immer mit dem Aufzug hinaufgefahren.«
Widu wollte unbedingt auf dem glitschigen geländer balancieren, genauso wie sie es damals in New York gemacht hatte. Und Nina wollte kein Feigling sein. Sie nahm Widu an der Hand und ging Schritt für Schritt neben ihr her. Aber Widu war immer noch nicht zufrieden.
»Lass mich los, ich kann allein gehen! Schau, ich brauche nur die Arme auszustrecken wie ein Seiltänzer.«
Ninas Herz raste, wenn sie daran dachte, was passieren konnte. Trotzdem ließ sie die Puppe los, blieb aber mit ihren Händen in der Nähe, um sie im Notfall auffangen zu können.
Und dann geschah es! Es ging so furchtbar schnell, dass Nina das Unglück nicht mehr verhindern konnte. Eine weiße Vogelfeder segelte, vom eisigen Wind herangewirbelt, auf Widu zu. Nina wollte die Feder fangen und streifte die Puppe nur ein ganz klein wenig, aber das reichte schon. Mit einem lauten Schrei stürzte Widu ab und klatschte tief unten in den nassen Rinnstein.
Eine riesengroße Angst packte Nina. Sie rannte durch die Wohnung ins Treppenhaus, die Treppe hinunter und hinaus ins Freie. Der Regen war noch stärker geworden. Nina sah Widu auf dem Boden liegen. Sie schaute hinauf zum Balkon, und er kam ihr höher vor als jemals zuvor. Dann schaute sie zu Widu hin und rannte los. Fast stieß sie einen alten Mann um, der sich gerade mit gesenktem Kopf dem Wind entgegenstemmte.
»Mädchen, pass doch auf!«, empörte er sich.
Aber Nina hörte ihn kaum. Sie drückte Widu an ihre Brust. »Entschuldige, entschuldige!«, stammelte sie.
»Keine Sorge, mir ist nichts passiert. Ich habe nur ein paar Autos von schräg unten gesehen«, sagte Widu. »Und ein paar Spritzer zur Erfrischung hab ich auch
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