Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
dick, heiß und kräftig. Er löffelt sie achtlos, als wäre er betäubt.
Álfheiður nimmt ihm das Tablett weg, wieder dieser warme, süßliche Geruch. Soll ich ihm auch Kaffee bringen?
Bring uns gern eine ordentliche Portion Kaffee, liebe Þórdís, antwortet Ólafur.
Der Junge blickt rasch auf, denn es ist komisch, wenn Menschen so plötzlich einen anderen Namen bekommen. Þórdís brummt irgendwas kaum Verständliches, der Junge schließt die Augen und sieht Hjalti deutlich vor sich, unerträglich deutlich, er sieht seine Augen, von Enttäuschung oder vielleicht Trauer gezeichnet, er hört Hjaltis letzten Satz, bevor der Schlitten mit dem Sarg davonglitt und die drei sich aus den Augen verloren: Hol’s der Teufel, Männer, wird man denn nur in diese Welt geboren, um zu verrecken?
Er schlägt die Augen wieder auf und fragt: Können wir nicht noch einmal nach Hjalti suchen lassen?
Was? Noch einmal?, sagt Ólafur. Zum dritten Mal?
Wieso zum dritten Mal?, fragt der Junge.
Sie haben schon gestern ein weiteres Mal nach ihm gesucht. Das war das zweite Mal. Das Wetter war ein wenig besser, aber sie haben nichts gefunden. Wir haben uns gedacht, dass ihr nicht nur zu zweit mit der Leiche unterwegs wart. Man braucht schon mehr als zwei Mann, um einen Sarg über den Berg zu schaffen.
Wir waren bei der Schlucht, sagt der Junge.
Steinunn sieht ihren Mann an. Jetzt wäre es immerhin möglich, aufrecht zu stehen und sich umzusehen, sagt sie, und der Arzt erhebt sich schwerfällig, geht zur Tür und ruft mit dröhnender Stimme: Álfheiður, ruf ein paar Männer zusammen und sag ihnen, sie sollen nach diesem Hjalti suchen. Sag ihnen, sie sollen an der Schlucht entlanggehen. Und dass sie es mit mir zu tun bekommen, wenn sie murren. Freuen werden sie sich nicht, die Burschen, sagt er noch, als er zurückkommt.
Man kann nicht immer nur Freude haben im Leben, meint Steinunn.
Nein, stimmt ihr Ólafur zu, das wäre auf Dauer ganz schön niederschmetternd.
Traust du dir zu, uns die Geschichte eurer Reise zu erzählen?, fragt sie den Jungen.
Oh ja, sagt Ólafur, es wäre schön, eine Geschichte zu hören. Da kommt auch der Kaffee, setzt er hinzu, als Þórdís mit dem Kaffee für alle drei erscheint. Dem Jungen wird klar, dass er wohl kaum darum herumkommen wird, zu erzählen. Es wird von ihm erwartet.
In einem der Häuser hier, sagt er, soll eine Frau namens Bóthildur wohnen.
Bóthildur? Nein, eine Frau dieses Namens ist dem Ehepaar unbekannt. Wieso?
Vor drei Jahren muss sie hier gewesen sein.
Wir leben seit zwanzig Jahren hier und haben nie eine Frau mit diesem Namen gesehen, sagt Ólafur. Warum fragst du?
Ach, nur so, meint der Junge und merkt, wie ihm wieder ein bisschen übel wird. Er schaut zu dem Postboten hinüber und sieht, wie sich die Bettdecke im Rhythmus seiner Atemzüge hebt und senkt. Wer atmet, ist am Leben, was das auch heißen mag. Dann beginnt er zu erzählen. Guðmundur der Hilfsbriefträger war krank, damit hat es angefangen.
V
Jens erwacht um die Abendzeit.
Der Junge war eingedöst, erschöpft von seiner Geschichte, denn es kann anstrengend sein, sich vergangene Ereignisse in Erinnerung zu rufen. Wir merken dabei, dass das Leben kein sich kontinuierlich abspulender Faden ist, sondern manchmal von Zufällen bestimmt wird, die ebenso grausam wie schön sein können. Manche Dinge gehen spurlos durch uns hindurch, ohne dass etwas zurückbleibt, andere durchleben wir wieder und wieder, weil das, was da vergangen ist, noch in uns steckt, den Tagen eine gewisse Färbung verleiht oder in die Träume hineinwirkt. Die Vergangenheit ist so dicht mit unserer Gegenwart verwoben, dass sich nicht immer zwischen beiden unterscheiden lässt. Sätze, die du heute fallen lässt, holen dich in fünf Jahren wieder ein, kommen wie ein Blumenstrauß zu dir, wie ein Trost oder wie ein blutiges Messer. Und was du morgen hörst, verwandelt einen früheren, liebenden Kuss in die Erinnerung an einen Schlangenbiss.
Er hatte erzählt, die Ereignisse noch einmal durchlebt, aber er hatte nicht alles preisgegeben, Jens nicht bloßgestellt, weder seinen Zusammenbruch im Boot erwähnt noch seine Äußerungen über Halla und ihren Vater, so offenherzig erzählte er nicht, wohl aber sprach er von dem kleinen Mädchen von der Winterküste, das so schrecklich hustet, dass sein Lebensfaden um ein Haar reißt. Er hatte auch vom Pastor in Vík berichtet.
Der arme Kjartan, hatte Ólafur gemurmelt.
Und die ärmste Anna erst, hatte
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