Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Steinunn gesagt, ist doch schrecklich, das Augenlicht zu verlieren.
Noch schlimmer aber ist es, die Lebensfreude zu verlieren, hatte Ólafur zurückgegeben.
Bist du dir sicher, hatte Steinunn gefragt, dass das Dunkel um Anna herum nicht eher von fehlender Liebe als von nachlassender Sehkraft herrührt?
Unsinn! Der Mensch verliert sein Augenlicht nicht durch Lieblosigkeit, das ist ausgeschlossen. Blindheit ist etwas Biologisches, das ist Wissenschaft.
Was wissen wir denn davon?, fragte Steinunn. Was wissen wir schon vom Menschen?
Alles in allem vielleicht nicht sehr viel, hatte Ólafur zugegeben, und der Junge hatte weitererzählt, vom Schnee, vom Sturm, von der Hochebene, von dem Mann und dem anderen Jungen oben auf der Heide, dass er Jens verloren hatte und ihm Ásta da geradezu erschienen war und ihn durch den blindwütigen Sturm zu Jens geführt hatte. Vielleicht war es nur Einbildung, hatte der Junge gesagt, als er den Gesichtsausdruck seiner Gastgeber gesehen hatte. Wann soll sie denn beerdigt werden?
Morgen oder übermorgen, hatte Steinunn geantwortet. Je nachdem, wie es Séra Gísli geht und ob die Männer es schaffen, ein Grab auszuheben. Das ist nicht so leicht, wenn der Boden gefroren ist.
Wie tief graben sie denn?, hatte der Junge mit leichtem Unbehagen gefragt, aber auch aus der unbestimmten Vorstellung heraus, je tiefer sie liege, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass sie dann Ruhe finden könne.
In anderthalb bis zwei Metern kommt Fels, hatte Ólafur erklärt. Hier liegen die Toten nicht tief, aber wir werden im Sommer hoffentlich noch etwas Erde aufschütten.
Hoffentlich?
Im Sommer wird so manches vergessen, junger Mann, wenn die Vögel singen, die Fliegen und die Fische kommen. Es fällt einem nicht leicht, an die Toten zu denken, wenn die Sonne scheint, und vielleicht ist es auch gar nicht nötig.
Gegen Ende seiner Geschichte war Þórdís mit einer frischen Wärmflasche für Jens zurückgekommen.
Wer bist du überhaupt?, hatte Ólafur den Jungen gefragt, nachdem er zugesehen hatte, wie Þórdís die Wärmflaschen auswechselte, und beide Frauen hatten den Jungen direkt angesehen.
Er schwieg. Was hätte er auch antworten sollen? Wie erklärt man seine Existenz? Wer bin ich? Sind wir das, was wir tun, oder das, was wir träumen?
Als vom Jungen nichts kam, hatte Steinunn gesagt: Du hast uns nämlich ganz schön Kopfzerbrechen bereitet. Du hast gute und teure Schuhe gegen die Kälte getragen, bestimmt aus Norwegen, und auch ordentliche Kleidung. Du hast aus Büchern zitiert; nicht alles war zu verstehen, vielleicht nur der kleinste Teil, aber ich glaube Shakespeare wiedererkannt zu haben, und den kennt nicht jeder auswendig. Andererseits beweisen deine Hände, dass du schwere Arbeit verrichtet hast.
Entweder taugen Männer was oder nicht, hatte Þórdís gesagt und das Kinn ein wenig gehoben.
Ich lebe bei Geirþrúður, hatte der Junge darauf geantwortet, als würde das etwas erklären.
Geirþrúður, hatte Ólafur wiederholt. Meinst du die Geirþrúður, die Frau von Guðjón?
Der Junge hatte genickt.
So, so, hatte Steinunn gestaunt, hat sie dich als Pflegesohn aufgenommen?
Nein, hatte der Junge erwidert und schneller, als er denken konnte, hinzugesetzt: Ich mag auch lieber sensible Frauen wie dich.
Ich würde dir eine langen, wenn du nicht schon liegen würdest, hatte Þórdís gesagt.
Nachdem die anderen gegangen waren, schlief der Junge ein, die Müdigkeit von der langen Wanderung steckte wie ein tiefes Summen in ihm, ein tief sitzender Schmerz, der nach oben stieg, nachdem er ihn beim Erzählen noch einmal durchlebt hatte. Er nickte ein und schlief.
Als er wieder zu sich kommt, ist es Abend.
Jens steht am Fenster, blickt nach draußen, und sein kantiges Gesicht ist totenblass. Lange traut sich der Junge nicht, etwas zu sagen, denn Worte können ans Licht bringen, wer am Leben und wer tot ist. Ein Wort, und Jens löst sich auf und liegt als Leichnam im nächsten Bett. Aber wir müssen Bescheid wissen, müssen den Unterschied zwischen Leben und Tod kennen, und darum sagt er: Wir sind in Sléttueyri.
Jens reagiert nicht, als hätte er nichts gehört. Was müssen wir sagen, damit uns die Toten hören, damit Gott uns hört?
Ich weiß, sagt Jens schließlich.
Im Haus des Arztes, ergänzt der Junge, so gut er kann, denn sobald er Jens’ Stimme hört, spürt er einen Kloß im Hals, der die Stimmbänder blockiert.
Ich weiß, sagt Jens bloß und schaut weiter in eine
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