Das Herz des Werwolfs (German Edition)
Schwanz einzog. Sie sah sich nur nach anderen Möglichkeiten um.
Aber all diese praktischen Überlegungen waren sofort vergessen, als MacEvoy den Karton auf den Tresen legte und ihn öffnete … Eine Welle der Hitze rollte über sie hinweg und bereitete ihr eine Gänsehaut. Sie fühlte sich plötzlich wach, obwohl sie vorher keinesfalls schläfrig gewesen war.
Der Ladenbesitzer grinste. „Gefällt es Ihnen?“
„Oh, ja“, hauchte sie. „Ja, das tut es.“ Weil es nicht nur irgendein Buch war. Es war das Buch. Es musste es einfach sein.
Auf dem Titel sah sie eine fein geschnitzte Szene, wieder im Wald, und dieses Mal lief ein unglaublich niedliches Mädchen einen schmalen Pfad entlang. Sie trug einen langen bauschigen Umhang über einem einfachen Kleid und sah über ihre Schulter zurück. Ihr Blick drückte zu gleichen Teilen Angst und Aufregung aus. Es gab keinen Autorennamen, nur einen Titel, der ein wenig erhabener war als die Schnitzerei. „Rutakoppchen“.
„Rotkäppchen“, flüsterte sie und hörte das Wort in der Stimme ihrer Mutter. Nicht nur einzigartig hatte sie an jenem lange vergangenen Geburtstag gesagt, sondern nur für dich bestimmt. Man hat es mir geschickt, mein Schatz, damit ich es dir gebe, wenn die Zeit gekommen ist.
MacEvoy sah überrascht aus. „Sie verstehen die Sprache? In den Papieren steht, es ist ein seltener west-europäischer Dialekt, und es gibt nicht viel Hoffnung auf eine Übersetzung.“
„Ich brauche keine Übersetzung.“ Sie kannte die Geschichte bereits auswendig. Mit klopfendem Herzen griffsie nach dem Buch.
Der Ladeninhaber hakte einen knochigen Finger in die Schachtel und zog sie ein Stück zu sich. „Wollen Sie es kaufen?“
Ihre Kreditkarte lag auf dem Tresen, ehe sie sich ihrer Entscheidung überhaupt bewusst war. Mehr noch, sie riss sie nicht wieder an sich, als MacEvoy danach griff, auch wenn die Stimme der Vernunft in ihr kreischte, dass sie nicht einmal nach dem Preis gefragt hatte.
Es war ihr egal. Sie musste es haben, egal, ob es wirklich das Exemplar war oder nicht, egal, ob es wirklich einzigartig war. Nicht wegen der seltsamen bruchstückhaften Träume, die sie jede Nacht heimsuchten, seit sie den Holzschnitt gekauft hatte – ein Steinkreis, wie Stonehenge, nur anders, ein Gefühl der Dringlichkeit, ein Aufblitzen von grünen Augen, das sie erregte und dann mit einem Gefühl schmerzlicher Leere aufwachen ließ –, sondern weil es ein fehlender Teil ihrer Vergangenheit war. Und wenn das Übertragung war, war es ihr gerade mehr als egal.
Als er ihre Karte durch das Gerät zog, berührte sie mit den Fingerspitzen das geschnitzte Holz und verspürte eine seltsame Erregung. Ihre Nerven kribbelten, und ein klügerer Teil von ihr fragte sich, was zum Teufel hier los war und warum sie sich so verhielt.
„Stimmt es, dass der Wolf Rotkäppchen in dieser Version nicht nur auffrisst?“, fragte MacEvoy, während er auf den Kassenbeleg wartete. Er sah zu ihr auf, und seine blutunterlaufenen Augen schienen zu leuchten. „In den Papieren stand, er verführt sie zuerst, versklavt sie, spielt mit ihr, bis es ihn langweilt … und dann frisst er sie.“
„So in der Art“, sagte sie. Sie konnte es nicht abwarten,in dem Buch zu blättern, aber sie wollte es nicht vor ihm tun, auch wenn sie nicht hätte sagen können, warum. Genauso wenig konnte sie das plötzliche Klopfen ihres Herzens erklären oder ihre feuchten Handflächen oder das flatternde Gefühl in ihrem Bauch. Sie wusste nur, dass ihre Hände zitterten, als sie den Beleg unterschrieb, die Schachtel schloss und sie sich unter den Arm klemmte. „Danke. Man sieht sich.“ Oder auch nicht.
„Warten Sie“, sagte er, als sie schon auf dem Weg zum Ausgang war. „Ich wollte Sie noch fragen … sind Sie nicht diese Polizistin? Sie wissen schon, die …“
Sie neigte den Kopf, drückte die Schachtel fester an sich und verließ das Geschäft, so schnell sie konnte.
Der kurze Weg zu ihrem Apartment am Rand des Szenebezirks, wo die alten Häuser wieder hergerichtet wurden, schien sich ewig hinzuziehen. Die beiden Nachbarn, denen sie unterwegs begegnete, taten so, als würden sie sie nicht sehen. Reda spürte einen schuldbewussten Stich. Trotzdem tat sie, was der Psychiater ihr geraten hatte: Sie sagte sich selbst, dass die Leute ihr nicht die Schuld daran gaben, dass ihr Partner bei dem Versuch, einen Überfall auf ein Spirituosengeschäft zu verhindern, erschossen worden war. Ihre Nachbarn, genau wie
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