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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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einmal, als Shay in der Duschzelle lautstark eine
Audienz beim Direktor verlangte. »Weil er da, wo er vorher war, alle taub
gemacht hat.«
    »Der ist ein Spasti«, erwiderte Crash.
»Der kann nicht anders. Genau wie unser kleiner Kinderficker. Stimmt's, Joey?«
    »Er ist nicht geistig unterbelichtet«,
sagte ich. »Wahrscheinlich hat er doppelt so viel Grips wie du, Crash.«
    »Halt die Schnauze, Schwuchtel«, sagte
Calloway. »Haltet mal alle die Schnauze!« Die Dringlichkeit in seiner Stimme
ließ uns verstummen. Calloway kniete an der Tür seiner Zelle und fischte mit
einer Schnur, die er mit Fäden aus seiner Decke geflochten und an die er eine
aufgerollte Illustrierte gebunden hatte. Er warf die Angel mitten auf den
Laufgang - ziemlich riskantes Manöver, denn die Aufseher würden jeden
Augenblick zurück sein. Zunächst war uns nicht klar, was er wollte - wenn wir
fischten, dann warfen wir uns gegenseitig die Angeln zu, um alles Mögliche von
einer Zelle in die andere zu befördern, von Taschenbüchern bis zu Schokoriegeln
-, aber dann sahen wir das kleine helle Oval auf dem Boden. Gott allein wusste,
wie ein Vogel auf die Idee kommen konnte, ausgerechnet in einem Höllenloch wie
diesem Knast ein Nest zu bauen, aber einer hatte es getan, ein paar Monate
zuvor, nachdem er über den Hof hereingeflogen war. Jetzt war ein Ei aus dem
Nest gefallen und zerbrochen. Das winzige Rotkehlchen lag auf der Seite,
unfertig, und seine durchsichtige, runzlige Brust hob und senkte sich wie verrückt.
    Calloway zog das Ei Zentimeter für
Zentimeter näher heran. »Das überlebt nicht«, sagte Crash. »Seine Mama wird es
nicht mehr wollen.«
    »Meinetwegen, aber ich will es«, sagte Calloway.
    »Es braucht Wärme«, sagte ich. »Wickel es
in ein Handtuch oder so.«
    »In dein T-Shirt«, sagte Joey.
    »Ich lass mir doch von einem
Kinderschänder nichts sagen«, erwiderte Calloway, aber dann, einen Augenblick
später: »Meinst du, ein T-Shirt tut's?«
    Während Shay weiter nach dem Direktor
rief, lauschten wir Calloways laufendem Kommentar der Ereignisse: Er packte das
Rotkehlchen in ein T-Shirt. Er steckte das eingepackte Rotkehlchen in seinen
linken Tennisschuh. Das Rotkehlchen bekam langsam wieder Farbe. Es öffnete eine
halbe Sekunde lang das linke Auge.
    Wir hatten alle vergessen, wie es war,
sich so sehr um etwas zu sorgen, dass sein Verlust unerträglich wäre. In meinem
ersten Jahr im Knast tat ich so, als wäre der Vollmond mein Freund, als würde
er einmal im Monat nur zu mir kommen. Und im letzten Sommer war Crash auf die
Idee verfallen, die Lüftungsschlitze in seiner Zelle mit Marmelade
einzuschmieren, um Bienen anzulocken, die er dann züchten wollte, aber nicht
etwa aus Naturverbundenheit, sondern weil er die spinnerte Hoffnung hatte, er
könnte sie dazu abrichten, in Schwärmen über den schlafenden Joey herzufallen.
    »Cowboys im Anmarsch«, sagte Crash, um
uns zu warnen, dass die Aufseher auf dem Weg waren. Sie blieben vor der
Duschzelle stehen und warteten, dass Shay die Hände durch die Klappe streckte,
um sich für die paar Meter bis in seiner Zelle Handschellen anlegen zu lassen.
    »Die wissen nicht, was es sein könnte«,
sagte Aufseher Smythe. »Lungenprobleme und Asthma haben sie ausgeschlossen.
Sie meinen, vielleicht eine Allergie - aber sie hat doch schon so gut wie
nichts mehr in ihrem Zimmer, Rick, es ist kahl wie eine Zelle.«
    Manchmal unterhielten die Aufseher sich
in unserem Beisein. Sie sprachen nie direkt mit Häftlingen über ihr
Privatleben, und das war uns nur recht. Wir wollten gar nicht wissen, dass der
Typ, der bei uns die Leibesvisitation vornahm, einen Sohn hatte, der verrückt
auf Fußball war. Das Menschliche sollte schön außen vor bleiben.
    »Sie meinen«, fuhr Smythe fort, »ihr Herz
verkrafte diese Belastung bald nicht mehr. Und ich auch nicht. Kannst du dir
vorstellen, wie das ist, wenn du die vielen Schläuche und Drähte siehst, die
aus ihr rauskommen?«
    Der zweite Aufseher, Whitaker, war
katholisch, und er legte mir abends gern handgeschriebene Bibelverse auf mein
Essenstablett, die Homosexualität verdammten. »Father Walter hat am Sonntag
ein Gebet für Hannah gesprochen. Er hat gesagt, er würde euch gern im Krankenhaus
besuchen.«
    »Ich will mir gar nicht anhören, was er
zu sagen hat«, knurrte Smythe. »Was ist das für ein Gott, der ein Kind so
leiden läßt?«
    Shay schob die Hände durch die Klappe in
der Duschzelle und ließ sich die Handschellen anlegen. Dann wurde

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