Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Bankhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand fahl in der Dämmerung. Allmählich traten die weißen Mauern deutlicher hervor. Als endlich die ersten Strahlen der Sonne die Straße erhellten, warf Biff einen letzten Blick durch den Raum und ging nach oben.
Beim Eintreten rüttelte er an der Türklinke, um Alice zu wecken. »Heilige Mutter Gottes!«, sagte er. »Das war vielleicht eine Nacht!«
Alice ließ sich Zeit mit dem Aufwachen. Wie eine schmollende Katze räkelte sie sich im zerwühlten Bett. In der frischen, warmen Morgensonne sah das Zimmer gräulich aus. An der Jalousieschnur baumelte schlaff und welk ein Paar Seidenstrümpfe.
»Sitzt der betrunkene Irre immer noch unten rum?«, fragte sie.
Biff zog das Hemd aus und sah nach, ob der Kragen sauber genug war, um es noch einmal anzuziehen. »Geh runter und sieh selber nach. Ich hab ja gesagt: Keiner hindert dich daran, ihn rauszuschmeißen.«
Alice langte verschlafen neben das Bett und hob eine Bibel vom Fußboden auf, eine Speisekarte und ein Buch für die Sonntagsschule. Sie raschelte mit den dünnen Blättern der Bibel, bis sie eine bestimmte Stelle gefunden hatte, und begann, laut zu lesen. Sie gab sich große Mühe, jedes Wort sehr deutlich auszusprechen. Es war Sonntag, und sie bereitete sich für den wöchentlichen Unterricht in der Knabenklasse der Sonntagsschule vor. »Als nun Jesus an dem Galiläischen Meer ging, sah er zwei Brüder, Simon, der da heißt Petrus, und Andreas, seinen Bruder, die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: ›Folget mir nach. Ich will euch zu Menschenfischern machen.‹ Alsbald verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.«
Biff ging ins Badezimmer, um sich zu waschen. Alice lernte weiter. Er lauschte ihrem Gemurmel: »…Und des Morgens vor Tage stand er auf und ging hinaus. Und Jesus ging in eine wüste Stätte und betete daselbst. Und Petrus mit denen, die bei ihm waren, eilte ihm nach. Und da sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: ›Jedermann suchet dich.‹«
Sie war fertig. Biff bewegte die Worte in seinem Herzen. Er versuchte, die Worte von Alices Stimme zu trennen. Er wollte diese Stelle so behalten, wie seine Mutter sie vorgelesen hatte, als er noch klein war. Wehmütig betrachtete er den Trauring an seinem kleinen Finger. Er hatte seiner Mutter gehört. Wieder fragte er sich, was sie wohl dazu sagen würde, dass er nichts mehr mit Kirche und Religion zu tun haben wollte.
»Das Thema der heutigen Stunde ist die Berufung der Jünger«, übte Alice weiter. »Und der Text lautet: ›Jedermann suchet dich.‹«
Entschlossen riss Biff sich aus seinen Gedanken und drehte den Wasserhahn voll auf. Er zog sein Unterhemd aus und begann sich zu waschen. Vom Gürtel an aufwärts war er immer peinlich sauber. Jeden Morgen seifte er sich Brust und Arme, Hals und Füße ab – und etwa zweimal alle Vierteljahr wusch er sich in der Badewanne den ganzen Körper.
Biff stand vor dem Bett und wartete ungeduldig darauf, dass Alice aufstand. Es würde ein windstiller, glühend heißer Tag werden. Alice hatte ihre Lektion durchgelesen und lag faul im Bett, obwohl sie wusste, dass er wartete. Er fühlte, wie sein stiller Groll beständig wuchs, und lachte zynisch. Dann sagte er in bitterem Ton: »Wenn du willst, setz ich mich hin und lese so lange Zeitung. Lieber wär’s mir allerdings, du lässt mich jetzt schlafen.«
Alice begann sich anzuziehen, und Biff machte das Bett. Geschickt kehrte er die Betttücher um, vom Kopf- zum Fußende und von unten nach oben. Als das Bett gemacht war, wartete er, bis Alice das Zimmer verlassen hatte; dann erst stieg er aus den Hosen und kroch ins Bett. Seine Füße ragten unter der Bettdecke hervor, und seine stark behaarte Brust nahm sich auf dem weißen Leinen ganz dunkel aus. Er war froh, dass er Alice nicht erzählt hatte, was mit dem Betrunkenen geschehen war.
Er hätte gern mit jemandem darüber geredet. Wenn er den ganzen Hergang laut berichtet hätte, wäre ihm vielleicht aufgegangen, was ihn daran so verwirrte. Der arme Hund – immer reden und reden und nie einen Menschen finden, der ihn verstand. Höchstwahrscheinlich verstand er sich selber nicht. Und dass er von dem Taubstummen nicht loskam und gerade ihm sein Herz ausschütten wollte…
Wieso bloß?
Weil manche Menschen es so an sich haben, dass sie irgendwann alles Persönliche aufgeben müssen, ehe es ganz hart wird und sie vergiftet – dass sie es irgendeinem menschlichen
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