Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
und wieder warf er einen Seitenblick auf Biff und Singer. Es ärgerte ihn, dass sie ihn weinen sahen. Es war ihm peinlich. Biff schaute achselzuckend den Taubstummen an und hob zum Zeichen seiner Ratlosigkeit die Augenbrauen. Singer legte den Kopf schief.
Biff war in einer verzwickten Lage. Er grübelte, was er jetzt tun sollte. Aber bevor er eine Entscheidung treffen konnte, wendete der Taubstumme die Speisekarte und schrieb auf die Rückseite:
Wenn Sie nicht wissen, wo er hingehn soll, kann ich ihn mit zu mir nehmen.
Erst einmal braucht er aber etwas Suppe und Kaffee.
Biff nickte, sichtlich erleichtert. Er tischte drei Teller mit verschiedenen Gerichten auf, zwei Terrinen Suppe, Kaffee und Nachtisch. Aber Blount wollte nicht essen. Er wollte die Hand nicht vom Mund nehmen, als wären seine Lippen ein Körperteil, der nicht entblößt werden dürfte. Sein Atem ging in schluchzenden Stößen, und seine breiten Schultern zuckten nervös. Singer deutete auf ein Gericht nach dem anderen, aber Blount hielt nur immer die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf.
Biff sprach langsam, damit der Taubstumme seine Worte ablesen konnte.
»Das sind die Nerven…«, sagte er, um überhaupt etwas zu sagen.
Der Suppendampf stieg Blount in die Nase, und nach einem Weilchen langte er zittrig nach dem Löffel. Er aß die Suppe und etwas vom Nachtisch. Seine dicken, geschwollenen Lippen zitterten noch immer, und er beugte sich tief über den Teller.
Nichts davon entging Biff. Fast jeder Mensch, dachte er, hat einen bestimmten Körperteil, auf den er besonders achtet. Bei dem Taubstummen sind es die Hände. Die kleine Mick zupfte vorn an ihrer Bluse, damit der Stoff nicht ihre zarten Brüste scheuerte. Bei Alice war es das Haar; wenn er sich die Kopfhaut mit Öl eingerieben hatte, durfte er nicht bei ihr schlafen. Und bei ihm selbst?
Eine Weile drehte Biff den Ring an seinem kleinen Finger. Jedenfalls wusste er, was es nicht war. Nicht mehr. Eine scharfe Falte grub sich in seine Stirn. Seine Hand in der Hosentasche tastete nervös nach seinem Glied. Er begann ein Lied zu pfeifen und stand vom Tisch auf. Es war komisch, wenn man das bei anderen Leuten rauskriegte.
Sie halfen Blount hoch. Vor lauter Schwäche konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Er weinte nicht mehr, schien aber in finsteres Grübeln versunken. Bereitwillig ließ er sich führen. Biff holte den Koffer hinter dem Tresen hervor und erklärte dem Taubstummen, was es damit auf sich hatte. Singer machte ein Gesicht, als könne ihn nichts überraschen.
Biff begleitete sie zur Tür. »Halt die Ohren steif, das wird schon wieder!«, sagte er zu Blount.
Der schwarze Nachthimmel färbte sich mit dem anbrechenden Morgen langsam dunkelblau. Nur wenige mattsilbrige Sterne standen noch am Himmel. Die Straße war leer und still, es war beinah kühl. Singer trug links den Koffer und stützte Blount mit der freien Hand. Er nickte Biff zum Abschied zu. Die beiden machten sich auf den Weg, und Biff schaute ihnen nach. Als sie einen halben Block entfernt waren, konnte man in der bläulichen Dunkelheit nur noch ihre schwarzen Umrisse erkennen: den aufrecht und sicher vorwärtsschreitenden Taubstummen und neben ihm stolpernd den breitschultrigen Blount. Als Biff sie nicht mehr sehen konnte, blickte er noch ein Weile nachdenklich zum Himmel auf. Die unvorstellbare Weite faszinierte und bedrückte ihn. Er rieb sich die Stirn und ging wieder in das grell erleuchtete Restaurant.
Er stand hinter der Registrierkasse, und seine Züge verhärteten sich, als er die Geschehnisse der Nacht zu überdenken suchte. Er hatte das Gefühl, als sei er sich selber eine Erklärung schuldig. Er erinnerte sich an jede Einzelheit und war doch verwirrt.
Die Tür ging mehrmals auf und zu, neue Gäste kamen herein. Die Nacht war vorbei. Willie stellte einige Stühle auf die Tische und fegte den Fußboden. Er dachte schon an Zuhause und sang. Willie war faul. In der Küche machte er oft eine Pause, um auf der Mundharmonika zu spielen, die er immer bei sich trug. Nun fegte er schläfrig den Fußboden und summte eine traurige Negermelodie.
Das Lokal war noch nicht voll. Um diese Zeit trafen die Nachtbummler mit den Frühaufstehern zusammen. Die müde Kellnerin servierte Bier und Kaffee. Die Leute machten kein Geräusch, sie unterhielten sich nicht – jeder war für sich allein. Das gegenseitige Misstrauen zwischen den Frühaufstehern und den Nachtschwärmern machte sie einander zu Fremden.
Das
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