Das Herz
bitter und linderte den nagenden Schmerz in ihrem Magen nicht, schien aber immerhin nicht giftig. Sie hörte Vögel, sah Eichhörnchen im Geäst umherspringen, und einmal stand sogar ein Reh ganz still auf einer Erhebung, als hoffte es, unbemerkt zu bleiben. Aber Qinnitan verstand nichts vom Jagen und Fallenstellen. Ein Haus oder irgendein sonstiges Anzeichen menschlichen Lebens hatte sie nicht gesehen. Während ihrer Gefangenschaft war es ihr einziger Gedanke gewesen, irgendwie von dem Schiff wegzukommen, Daikonas Vo zu entrinnen, damit er sie nicht Sulepis übergeben konnte, weil sie ja schon vor langem beschlossen hatte, lieber zu sterben, als noch einmal dem Autarchen in die Hände zu fallen. Doch jetzt, da sie frei und trotzdem noch am Leben war, wollte sie auch am Leben
bleiben,
wusste aber nicht wie.
Was war das hier für eine Gegend, dieses Brenland, wie Vo es genannt hatte? Sie konnte nicht begreifen, wie es so etwas überhaupt geben konnte: endlose Wälder, von farngesäumten Bächen durchzogen, grüne Hügel, von deren Kuppen man noch mehr grüne Hügel sah, Stille, bis auf die heiseren Schreie von Raubvögeln. Wenn es in Xis einen solchen Ort gäbe, würden die Leute zu Tausenden herbeiströmen, um die Fülle an Grün und Schatten zu genießen — er wäre der Inbegriff von Luxus, Komfort und Schönheit! Aber diese Wildnis war menschenleer, hier gab es nichts als die einsamen Rufe der geflügelten Jäger.
Qinnitan hatte Vo sagen hören, dass Brenland südöstlich ihres Ziels lag, was doch hieß, dass es westlich von da, wo sie jetzt war, irgendwelche Siedlungen geben musste, vielleicht sogar Städte. Sie versuchte, sich an der Sonne zu orientieren, konnte sie aber manchmal nicht ausmachen, und wenn sie sie dann wiederentdeckte, war sie ihrem Gefühl nach vor lauter Umherirren kein Stück vorangekommen. Trinken konnte sie praktisch jederzeit aus sauberen, kühlen Bächen, was viel dazu beitrug, dass sie nicht gänzlich verzweifelte, aber der Hunger wurde mit jeder Stunde schlimmer. Wenn er zu unerträglich war oder ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten, deckte sie sich mit belaubten Zweigen zu und schlief, so gut sie konnte.
Ein, zwei Mal, als sie auf eine lichte Anhöhe gelangte, glaubte sie, hinter sich etwas Dunkles zu sehen, das ihr folgte. Wenn es nicht der Mörder Vo war, war es bestimmt etwas ähnlich Gefährliches — ein Bär oder ein Wolf oder ein Walddämon. Jedes Mal, wenn da irgendwo etwas war, das vielleicht eine Gestalt sein konnte, die hinter ihr herhuschte wie ein verlorener Schatten, gefror ihr das Herz, aber jedes Mal lief sie schnell weiter: Was auch geschehen mochte, ergreifen lassen würde sie sich nie mehr.
Zwei Tage vergingen, drei, vier. Es wurde immer schwerer, am Abend den wühlenden Schmerz in ihrem Magen lange genug zu ignorieren, um einzuschlafen, und es wurde immer schwerer, am Morgen aufzustehen und weiterzugehen, wenn ihr wieder eine Nacht keinen Traum von Barrick Eddon gebracht hatte. Vielleicht war Barrick ja tot, oder schlimmer noch, jetzt, da sie ihn am dringendsten brauchte, hatte er sie einfach im Stich gelassen.
Im Frauenpalast hatte sich Qinnitan in ein Gedicht von Baz'u Jev verliebt, das »Verirrt auf dem Berge« hieß, und jetzt, da sich Stunden und Tage der Qual aneinanderreihten, sprach sie es immer wieder vor sich hin wie einen Zauberspruch, obwohl es nur ihrer Traurigkeit Worte verlieh und sie in der Gewissheit bestärkte, dass sie in dieser fremden Wildnis sterben würde.
»Der Morgen ist vorbei
Der Mittag ist vorbei
Die Falten der Täler füllt Schatten
Und ich finde den Weg nicht.
Der Wind will mir etwas sagen
Aber die Worte verstehe ich nicht
Wie findet der Sonnenball
Durch die Dunkelheit zurück?
Ich höre den Ruf einer Bergziege
Ich höre die Stimme des Hirten
Doch ich weiß nicht woher
Wie findet der Mond
am gleißenden Tag sein Haus?
Und doch kehren alle heim
Alle kommen nach Hause
Kommen zurück und finden die Feuer
Für ihre Heimkehr entzündet
Und Wein bereit im Becher
Ihr, die ihr mich findet,
ich bitte nur, erinnert euch
Dass in mir einst Atem war
und in meinem Atem
Dieses Lied.«
An etwas Schönes und Vertrautes zu denken, während all das Fremde und Seltsame auf sie eindrängte, war zwar nur ein kleiner Trost, aber in diesem wilden, leeren Land fühlte es sich an wie ein großes Geschenk.
Trotz des Jahrs, das sie im Luxus und der Bequemlichkeit des Frauenpalasts verbracht hatte, war Qinnitan in der darauffolgenden Zeit, ehe sie
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