Das Herz
sich aus dem Meer an diesen brenländischen Strand geschleppt hatte, wesentlich robuster und zäher geworden. Sie hatte in Hierosol schwer gearbeitet, schwerer noch als in ihrer Novizinnenzeit im Bienentempel, und danach hatte Vo sie unter harten Bedingungen gefangen gehalten und ihr immer so viel zu essen gegeben, dass sie einigermaßen gesund blieb; außerdem hatte sie einen Teil ihres Essens dem Knaben Spatz zugesteckt, solange sie zusammen gewesen waren. Qinnitan war also kein verzärteltes Pflänzchen, keine Orchidee aus dem Treibhaus des Autarchen, so wie die Frau, die Baz'u Jev in einem Gedicht schilderte:
»Ein Duft von unsäglicher Süße, doch für immer verweht vom ersten frischen Wind ...«
Aber jetzt war sie am Ende ihrer Kräfte. Der fünfte Tag — sie glaubte, dass es der fünfte war, sicher war sie sich nicht mehr — und dann der sechste, wenn er es denn war, vergingen in einem diffusen Strudel aus Tüpfellicht, glitschigen Blättern und Nadeln, Bächen, die sich durch den Wald zogen wie helle Streifen über den Rücken eines riesigen Untiers ...
Schließlich fiel Qinnitan hin und konnte nicht mehr aufstehen. Die Spätnachmittagsschatten hatten den Wald in eine einzige Düsternis verwandelt, in eine riesige Gruft voller Säulen, um die erdrückende Last der Welt und des Himmels zu tragen. Ihr Kopf schien erfüllt von Stimmen, die einen monotonen Rhythmus bildeten, aber vielleicht, dachte sie, waren es ja nur die Schatten der Bäume, die auf sie fielen, so schwer wie Trommelschläge.
Sie versuchte sich an die Gebete zu erinnern, die sie die Bienentempelschwestern gelehrt hatten, aber sie bezweifelte, dass Nushash sie hier hören konnte, so weit weg von der Sonne und der roten Wüste: Ein paar Worte tauchten auf, fragil wie Sandskulpturen, zerfielen dann schnell.
Bitte,
betete sie,
bitte, lasst mich nicht ganz allein sterben.
Der Lärm in ihrem Kopf wurde lauter, war jetzt wie das Rauschen eines mächtigen Winds.
Bitte, helft mir, einen Weg zu Barrick zu finden ... dem rothaarigen Jungen, der freundlich zu mir war. O ihr Götter und Göttinnen, bitte helft mir! Ich bin so tief im Wald, dass ich nicht mehr denken kann! Helft mir, bitte! Wo ist er? Bitte, helft uns ...!
Als Qinnitan erwachte, merkte sie, obgleich sie am ganzen Leib zitterte, zunächst nicht, dass sie von Regen durchnässt war. Und plötzlich, ehe sie mehr tun konnte, als sich auf Hände und Knie emporzustützen, stürzte ein Alptraumwesen zwischen zwei Bäumen hervor. Es war tief gekrümmt und torkelte. Das Haar hing ihm wirr um den Kopf und vermengte sich mit den Anfängen eines struppigen Barts, doch was ihr einen eisigen Dolch von Angst in die Eingeweide trieb, war die Maske aus Blut, die sein dreckverschmiertes Gesicht bedeckte — Blut aus Dutzenden von Schnitten, Blut, das ihm aus Mund und Nase gelaufen und getrocknet war, Blut in den Mundwinkeln und Blut im Bart. Und als das Wesen grinste, war da sogar Blut zwischen seinen Zähnen.
»Aha«, sagte Daikonas Vo so ruhig, als wären sie sich auf dem Marktplatz begegnet. »Hier steckst du also.«
Der Bote aus Syan sah aus, als hätte er auf dem Weg zu ihnen mehrere Pferde zu Tode geritten: Mantel und Hose bestanden mehr aus Staub und Dreck als aus Stoff.
»Verzeiht, Königliche Hoheit«, sagte er, vor Eneas kniend. »Ich habe an jeder Station zwischen Tessis und hier ein erschöpftes Tier zurückgelassen, aber seine Durchlaucht, der Graf, wollte, dass Ihr das hier so schnell wie möglich erhaltet.«
Eneas nahm die Öltuchtasche entgegen, zog den Brief heraus und studierte kurz das Siegel. »Mein Quartiermeister wird dafür sorgen, dass Ihr etwas zu essen und einen Schlafplatz bekommt«, erklärte er dem jungen Höfling. Eenas öffnete den Brief, um ihn an Ort und Stelle zu lesen, während Briony ihr Bestes tat, höflich und geduldig zu warten. Sie sagte sich, dass seine Durchlaucht, der Graf, wohl Erasmias Jino sein musste, ein Mann, dem Prinz Eneas vertraute, obwohl er der oberste Herr der syanesischen Spione war. Briony selbst hatte Jino anfangs nicht sonderlich gemocht, doch im Unterschied zu den meisten Edelleuten an König Enanders Hof hatte er ihr wohl mehr Gutes als Böses getan.
»Ihr solltet das hier auch lesen«, sagte Eneas, als er am Ende angekommen war. Sein Gesicht war finster. Briony schnürte es die Kehle zusammen.
»Mein Vater ... ist er ... ist irgendwas ...?«
»Es deutet nichts darauf hin, dass er nicht wohlauf wäre«, beruhigte Eneas sie rasch.
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