Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
Stadt des Prinzen loszuwerden. »Zuerst hatten wir Angst, dass die Zwielichtler hier durchkommen würden — die Leute sagten, sie würden alle Ortschaften nördlich der syanesischen Grenze niederbrennen. Sie kamen nicht, aber dafür kamen hier Leute entlang, die aus dem Osten flohen — Leute, deren Ortschaften tatsächlich niedergebrannt worden waren und die schreckliche Sachen erzählten. Das machte den Leuten hier Angst und jagte anfangs viele in die Flucht. Nach einer Weile hörte das dann auf. Es wohnen immer noch Leute hier in der Gegend, vor allem droben in den Bergen und in den befestigten Städten, aber die Dörfer an der Straße sind so gut wie leer.« Er schüttelte den Kopf — ein vor Angst und Ungewissheit jäh gealterter Mann. »Man lebt einfach so dahin. Man meint, es ändert sich nie was, aber das stimmt nicht. Innerhalb eines Tages kann sich alles ändern.«
    Innerhalb einer Stunde,
dachte Briony.
Eines Augenblicks.
Das verwirrte, deprimierte Gesicht des Gastwirts machte sie traurig, aber noch schlimmer war, dass sie wusste, sie würde diesen Menschen nicht so schnell helfen können — falls überhaupt je.
    Aber das ist doch etwas, das der Adel geben kann,
dachte sie.
In schlimmen Zeiten kann ein König oder eine Königin ein Fels in der Brandung sein, der verhindert, dass die Schwächeren weggespült werden.
    Ich will ein solcher Fels sein. Gib mir nur die Chance, o sanftmütige Zoria, und ich werde meinem Volk ein Fels sein.

    Qinnitan war eben erst verwirrt erwacht, als sie der Anblick von etwas Mannsgroßem, das über den Strand kroch, aufspringen und die Hügel hinauf in Richtung Wald flüchten ließ. Im dichten Frühnebel war das Etwas nicht richtig zu erkennen gewesen, aber es erfüllte sie mit panischer Angst: Entweder war es Vo, von dem Gift entkräftet, oder aber ein Dämon, einer der
Affir
aus den alten Ammenmärchen, jener Wesen, die sich wie Krabben über die grauen Sandstrände des Nordens bewegten. Qinnitan verspürte keinerlei Drang, es herauszufinden.
    Sie arbeitete sich den Hügel hinauf, versuchte, auf Grasboden zu bleiben, um ihre Füße zu schonen, musste aber doch oft durch dichtes, kratziges Gesträuch klettern, das den Hang überzog wie Ausschlag das Gesicht eines Bettlers. Als fast eine Stunde vergangen war und sie den Strand weit hinter sich gelassen hatte, spürte sie plötzlich das Wühlen des Hungers — ein Schmerz, den sie begrüßte, weil ihm ein Problem zugrunde lag, das sich vielleicht beheben ließ. Ihre Gesamtsituation schien hoffnungslos: Sie befand sich ganz allein in einem unbekannten Land, und selbst wenn sie ihrem Entführer wirklich entkommen und das Etwas dort am Strand nur der letzte Fetzen eines Traums gewesen war, wusste sie doch, dass sie in der Wildnis kein Tagzehnt ohne Hilfe überleben würde.
    Ein Stück unterhalb der Hügelkuppe machte sie eine Verschnaufpause inmitten einer Gruppe von Bäumen mit schlanken weißen Stämmen und zarten Blättern. Diese Bäume wuchsen in einem gewissen Achtungsabstand voneinander, sodass der Hang aussah wie eine Versammlung von kräftigen Zoaz-Priestern, die die aufgehende Sonne begrüßten. Zuerst war Qinnitan einfach nur beeindruckt von so vielen Bäumen und dem ganzen lichtdurchglänzten Grün, das so anders war als die schattigen Gärten des Frauenpalasts, doch als sie auf die Hügelkuppe kam, wurden die Bäume spärlicher, und Qinnitan sah die ganze Weite der Wälder und die schneebedeckten Berggipfel dahinter. Sie fiel auf die Knie.
    Die Wälder Eions von der Reling eines Schiffs aus zu sehen, ihr endloses stumpfes Grün, das die Küste bedeckte wie eine knittrige Decke, war eine Sache. Aber
darin
zu sein und vor der Aufgabe zu stehen, sie zu durchqueren, war etwas ganz anderes. Qinnitan war ein Kind der Wüste, gewöhnt an Straßen, die trotz der tausend Straßenfeger des Autarchen immer wieder voller Sand waren, und an Gärten, wo ebendeshalb Wasser floss, weil es rar und kostbar war. Hier hingegen ging die Natur so verschwenderisch mit ihren Gaben um, als wollte sie sagen: »Das Leben, das ihr führt, du und dein Volk, ist armselig und traurig. Schau hier, nur zu meiner Belustigung überschütte ich Tiere und Barbaren mit meinem Reichtum.«
    Eine ganze Weile konnte sie nur zitternd daknien, überwältigt von der beängstigenden Weite und Seltsamkeit dieser fremden Welt.
    Etwas zu essen fand sie weder an diesem Tag noch am nächsten. Sie versuchte, das Gras zu kauen, das zwischen den Bäumen spross; es war

Weitere Kostenlose Bücher