Das Herz
gut so«, erklärte Eneas Briony und seinem obersten Offizier, einem ernsten jungen Edelmann namens Miron, Graf Helkis, der den nur wenige Jahre älteren Prinzen mit einem Respekt behandelte, wie ihn sonst vielleicht ein Sohn dem Vater entgegenbrachte. »In einer Stadt würden sie nur verweichlichen. Städte sind schrecklich — voller Müßiggänger, Diebe und verderbter Weibsbilder.«
»Ach, wirklich?«, fragte Briony. »Es scheint mir doch seltsam, dass Ihr das sagt. Leben nicht Euer Vater und Eure übrige Familie in Tessis, der größten Stadt Eions? Lebt Ihr nicht selbst dort?«
Eneas sah verdrossen drein. »Das ist etwas anderes, Prinzessin. Ich lebe dort, weil ich muss, und nur dann, wenn ich es muss. Aber lieber lebe ich im Heerlager oder im Biwak — oder auf meinem Landsitz in den Bergen.« Sein hübsches Gesicht war ernst — ein bisschen zu ernst, fand Briony. »Ja, den müsst Ihr einmal sehen, Briony. Aus den oberen Fenstern schaut man bis hinab ins Tal — kein Mensch weit und breit, außer ein paar Hirten bei ihren Herden auf den Hochweiden.«
»Das klingt ... sehr hübsch. Und ich bin sicher, den Hirten gefällt es auch. Aber findet Ihr denn gar nichts Gutes an Städten — oder am königlichen Hof?«
Er sah sie leicht misstrauisch an, als ob das womöglich eine Fangfrage wäre. »Ihr habt doch gesehen, wie es am Hof ist. Ihr habt sie doch über Euch tuscheln hören. Ihr habt doch erlebt, was sie mit Euch gemacht haben, nur weil Euer Zuhause kleiner und ruhiger ist und Ihr ihre Sitten nicht gewohnt seid.«
Briony hob eine Augenbraue. Ihr Problem in Tessis war es gewesen, Feinde zu haben, darunter die Geliebte des Königs — nicht so sehr, ein naives Mädchen aus der Provinz zu sein, das sich nicht schützen konnte. Als ob ihr noch nie jemand nach dem Leben getrachtet hätte, ehe sie nach Syan gekommen war! Sie fragte sich, ob Eneas sie deshalb mochte — weil er sie für ein besseres Bauernmädchen hielt, wenn auch ein Bauernmädchen mit einem gewissen Hang zum Eigensinn und zur Direktheit.
»Jedenfalls«, sagte sie, »gibt es durchaus Menschen, denen manches an Städten und sogar bei Hofe gefällt — Tanz und Musik, Theater, Märkte mit Waren aus anderen Ländern ...« Sie musste daran denken, wie entzückt sie gewesen war, als ihr Vater ihr einige der exotischeren Waren auf dem Marktplatz gezeigt hatte: die ausgestopfte Eidechse aus Talleno, die wie ein kleiner Drache aussah, den riesigen Schädel eines seltsamen, gehörnten Tiers von irgendwo jenseits der xandischen Wüste, die Truhe mit Gewürzen aus den feuchten, heißen Urwäldern jenes südlichen Kontinents, von denen sie keines kannte außer dem Marash-Pfeffer, der sie immer in der Nase kribbelte. Sie erinnerte sich noch genau an den nervösen Händler, einen kleinen Kraker, der vor dem König aufgeregt auf den Zehenspitzen gewippt und lächelnd die Arme ausgebreitet hatte, als wollte er sagen: »Das ist alles meins?« Ihr Vater hatte die ausgestopfte Eidechse gekauft, die dann jahrelang in ihrem Zimmer stand, bis einer ihrer Hunde sie schließlich zernagte.
Eneas beschäftigten, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, weniger angenehme Erinnerungen. »Städte! Ich verabscheue sie! Verzeiht, Prinzessin, aber Ihr habt keine Ahnung, welche Probleme sie einem Herrscher bereiten. Die Ideen, auf die die gemeinen Leute kommen, wenn sie in einer großen Stadt leben! Tagtäglich sehen sie Nachbarn in Kleidern herumlaufen, die für ihren Stand viel zu vornehm sind. Oder sie sehen Edelleute, die sich nicht besser benehmen als Bauern. Und am Ende weiß niemand mehr, wo er hingehört und was er zu tun hat. Und die Theater! Ich weiß, Briony, Ihr fühlt Euch den Schauspielern, mit denen Ihr gereist seid, auf eine sentimentale Art verbunden, doch die meisten Theater sind, was die Moral angeht, kaum besser als ... verzeiht meine rohe Sprache, aber es muss gesagt werden ... kaum besser als Hurenhäuser. Die Schauspieler stellen sich vor betrunkenen Männern zur Schau — manche sogar als Frauen verkleidet! — und verkaufen sich oft wie gemeine Dirnen. Ich bitte Euch abermals um Verzeihung, aber das ist nun mal die Wahrheit.«
Briony bemühte sich, nicht zu lachen. Sicher, viele Schauspieler hatten eine etwas lockere Moral — Feival Ulosian, der Verräter, hatte sich eine ganze Reihe reicher Verehrer quer durch Nord-Eion gehalten —, aber sie konnte sich darüber nicht so entrüsten wie Eneas. Wenn seine geliebten Schafhirten so viel
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