Das Herz
»Verzeiht, Prinzessin, ich wollte Euch nicht erschrecken. Von Eurem Vater ist hier gar nicht unmittelbar die Rede. Aber was Jino ansonsten zu berichten hat, gefällt mir überhaupt nicht.«
Briony nahm den Brief. Sie starrte erst einmal stirnrunzelnd darauf — wie alle Tessier hatte der Graf von Athnia eine extrem verschlungene und verschnörkelte Handschrift, sodass seine Zeilen zunächst eher dekorativ als informativ wirkten, doch nach und nach vermochte sie sie zu entziffern. Und Schnörkel hin oder hier, sie musste Jino lassen, dass er, von den üblichen Grußformeln abgesehen, keine Zeit auf Unwesentliches vergeudete.
»Hoheit, ich habe alles erledigt, worum Ihr mich batet«,
las sie vor.
»In anderer Hinsicht habe ich jedoch weniger Befriedigendes zu vermelden. Viele am Hof nehmen trotz der Geschehnisse im Süden und des Angriffs auf Hierosol gar nicht
zur
Kenntnis, dass wir im Krieg stehen. Das wird sich natürlich ändern, sobald der Autarch nach ihren Ländereien schnappt, aber dann wird es für etliche, wenn nicht gar für uns alle, zu spät sein.
Aber das Thema, um das es mir eigentlich geht, ist der Autarch selbst, denn ich erhalte viele seltsame Einzelnachrichten über ihn und kann mir daraus einfach kein rechtes Bild machen. Ich bitte Euch daher, Hoheit, Euren überlegenen taktischen Verstand da walten zu lassen, wo meine bescheidenen Fähigkeiten nicht ausreichen.«
»Der Graf scheint mir ganz schön von sich eingenommen«, sagte Briony. »Selbst wenn er unterwürfig sein will, schafft er es nicht richtig.«
»Er ist ein braver Mann, Prinzessin.« Eneas klang beleidigt. »Er ist meine rechte Hand bei Hofe — an diesem Ort, den ich meide, wann immer ich kann, und wo ich dringend Männer brauche, denen ich trauen kann.«
»Gewiss, ich wollte nicht ...« Sie wandte sich wieder dem Brief zu.
»Eine Reihe höchst sonderbarer Berichte kommen aus Hierosol, und nicht nur von den Flüchtlingen, die unsere Städte entlang der südlichen Grenze überschwemmen. Ähnlich erstaunliche Gerüchte verbreiten auch die Garnisonskommandeure und selbst einige Überlebende des alten Adels, die sich jetzt entweder versteckt halten oder sich außerhalb von Hierosol befinden. Ihre Geschichten widersprechen sich häufig und enthalten vielfach ungesicherte Vermutungen, doch in einem scheinen sich alle einig: Der Autarch ist nicht mehr in Hierosol. In seiner Reichshauptstadt Xis ist er auch nicht wieder erschienen — Reisende, die vom Südkontinent kommen, berichten einstimmig, dass einer seiner Lakaien, ein gewisser Muziren Chah, noch immer den Thron des Vizekönigs innehat. Also stellt sich die Frage: Wo ist der Autarch?
Teils wird gemutmaßt, er sei erkrankt und heimlich nach Xis zurückgekehrt, um weder seine Feinde zu ermutigen, noch die Kampfkraft der eigenen Truppen zu schwächen. Andere Spekulationen unterstellen noch Schwerwiegenderes — er sei von Rivalen oder von seinem Thronfolger, einem kränklichen Geschöpf namens Prusus, ermordet worden, und der neue Herrscher halte den Tod des Autarchen geheim, bis er dessen Statthalter Xis entreißen könne.
Andere Quellen (unter denen jedoch kein Augenzeuge ist) wollen wissen, dass der Autarch mit einer kleinen Armee von Xixiern König Hesper von Jellon angegriffen und samt vielen seiner Untertanen getötet habe, ehe er wieder davongesegelt sei. Mir ist sogar zu Ohren gekommen, er lasse in ganz Eion Kinder verschleppen, um sie seinen heidnischen Göttern zu opfern, damit Nushashos und die übrigen ihm den endgültigen Sieg über den Nordkontinent gewähren. Meiner Meinung nach beruhen diese Darstellungen jedoch eher auf der um sich greifenden Kriegsfurcht und der Angst vor dem Unbekannten als auf irgendwelchen Tatsachen.
Auf dieser Grundlage, Hoheit, weiß ich nicht, was ich Euch raten soll. Ich kann mir schwer vorstellen, dass der Autarch sein Belagerungsheer vor Hierosol aus irgendeinem anderen Grund verlassen haben sollte, als um nach Xis zurückzukehren — Herrscher, die sich zu lange fern der Heimat aufhalten, fürchten oft um ihre Macht. Doch praktisch alle Quellen sind sich einig, dass er Hierosol verlassen hat, und fast ebenso viele besagen, dass er in seinem eigenen Reich nicht gesichtet wurde. Unterdes halten die Bemühungen der Xixier, den letzten Widerstand der Hierosoliner zu brechen, unvermindert an. Wenn dieser Teufel Sulepis das Interesse an der Eroberung jener bedeutenden alten Stadt verloren haben sollte, ist dies für mich nicht
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