Das Herz
wenn Ihr und Eure Landsleute im Staub der Vergangenheit verschwunden seid.« Vashs Gesichtsausdruck musste etwas verraten haben, denn der Autarch zeigte mit dem Finger auf den alten Höfling, als wollte er es ihm noch einmal unmissverständlich klarmachen. »Eine Million Kinder, mein alter Freund — zehn Millionen! Egal. Ich würde alles, was lebt, ohne Zögern vernichten, wenn dadurch mein Herzenswunsch erfüllt würde.«
Kurz darauf erfand Vash eine Erledigung und ging. Der Autarch, der mit seinen Offizieren den Vorstoß in die Tiefen unter der Burg erörterte, schien es gar nicht zu bemerken.
Matthias Kettelsmit hatte geglaubt, tiefer könnte er nicht mehr sinken — die Tage, die er an Hendon Tollys Seite verbracht hatte, gezwungen, auf jeden Wink des Reichshüters zu springen und auch dessen erschreckendere Amüsements mit anzusehen, wenn nicht gar daran teilzunehmen, hätten ihn so weit hinabgezogen, dass ihn nichts mehr schockieren könnte. Er hatte sich geirrt.
Es war schon schlimm genug, dass er den kleinen Prinzen Alessandros tragen musste, der auf dem ganzen Weg durch den Palast strampelte und weinte; Kettelsmit konnte sich gar nicht ausdenken, wie es wäre, Königin Anissa festhalten zu müssen, eine Aufgabe, die den beiden Wachen zugefallen war, nachdem sie ihr das Kind weggenommen hatten. Anissa kämpfte und schrie, aber die oberen Stockwerke der Burg hätten ebenso gut leer stehen können: Niemand öffnete auch nur eine Tür, um nachzusehen, was da auf dem Gang los war. Kettelsmit konnte daraus nur schließen, dass man hier an das Schreien verzweifelter Frauen, die nachts durch den Palast geschleppt wurden, gewöhnt war.
Aber warum helfe ich diesem Ungeheuer?,
dachte er.
Niemand weiß doch besser als ich, was für eine wahnsinnige Bestie er ist. Ich sollte eine Möglichkeit finden, ihn zu töten, auch wenn es mich mein eigenes Leben kostet.
Aber genau das war das Problem: Matthias Kettelsmit wollte nicht sterben. Nicht einmal, um die Welt von so mörderischem Abschaum wie Hendon Tolly zu befreien. Tatsächlich hatte er solche Angst vor dem Reichshüter, dass er überzeugt war, ihn gar nicht töten zu können, selbst wenn er irgendwoher den Mut nähme, es zu versuchen. Tolly würde irgendwie überleben und dann alles tun, um seinen, Kettelsmits, Tod lang und schmerzhaft zu machen.
Also machst du stattdessen mit?,
fragte er sich.
Bei Zosims Leier, was bist du für ein Mann?
Ein Feigling.
Es gab keinen Grund zu lügen — Kettelsmit sprach ja schließlich nur mit Kettelsmit.
Ein Feigling, der leben will. Außerdem, wenn ich sterbe, wer kümmert sich dann um Elan? Wer verhindert, dass sie wieder in Tollys Fänge gerät?
Aber es war nicht wirklich wegen Elan, das wusste er. Feigheit — das war der wahre Grund. Sinnlos, etwas anderes vorzugeben.
Königin Anissa kämpfte wieder gegen die Wachen an, um zu Kettelsmit und dem Kind zu gelangen. »Mein Herr«, rief sie, »mein Herr, ich kenne nicht Euch, aber Ihr habt ein freundliches Gesicht. Lasst Ihr mich wenigstens ihn tragen? Bitte, mein Herr! Er hat Angst, das arme kleine Lämmchen.« Sie reckte sich nach dem rotgesichtigen, weinenden Baby. »Lasst seine Mama ihn halten! Lasst mich ...!«
Matthias Kettelsmit fühlte sich ganz krank. Was konnte es schon schaden? Warum sollte Anissa das Kind nicht halten?
Weil sie es töten könnte, anstatt es Tolly zu überlassen, sagte er sich und war entsetzt, nicht nur, weil er überhaupt eines solchen Gedankens fähig war, sondern vor allem, weil er wusste, dass es stimmte und er entsprechend handeln musste.
Jetzt mach aber einen Punkt,
ermahnte er sich, als hätte sich ein anderer aus der Menge von Kettelsmits vorgedrängt, um auch mitzureden.
Solange du das Kind hältst, kannst du es beschützen. Wer weiß, was diese hysterische Frau tun könnte.
»Bitte, mein Herr, bitte!« Ihr Ton wurde anders, lauter und verzweifelter, jetzt, da sie sich Tollys Gemächern näherten. »O bei den Göttern, bei den heiligen Drei«, kreischte sie, »und bei unserer Herrin Zoria und allen Dämonen der Tiefen, Fluch über dieses Monster, das stiehlt mein Baby! Fluch über ihn!«
Und das Schlimmste war, dass er nicht einmal wusste, welches Monster sie meinte, Hendon Tolly oder ihn selbst, und dass er da auch keinen großen Unterschied feststellen konnte.
»Warum führt Ihr Euch so auf, meine Königin? Warum macht Ihr solch ein Geschrei? Niemand will Eurem Kind etwas tun. Geht wieder in Eure Gemächer.« Hendon war
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