Das Herz
Straßen bis auf die Kinder leer und verlassen; Vash erinnerte sich noch an das Gefühl, durch eine Totenstadt zu gehen.
»Ja, Vash, es ist sonder- und wunderbar, den Tag der Feuer hier unter der Erde zu verbringen, wo man die Sonne gar nicht sehen kann.« Über Gebühr aus der Ruhe gebracht schien der Autarch jedoch nicht. Er wandte sich an Olin: »Ich hörte Euch meinen Namen sagen.« Er tat ein paar Schritte auf der Reihe der Laufbrettsklaven. Jedes Klatschen seiner Sandalen begleitete ein leises Ächzen, wenn der Mann unter ihm sein Gewicht übernahm: Der Autarch war nicht massig, aber sehr groß. »Ihr scheint bedrückt, König Olin«, sagte Sulepis zu dem Nordländer und beugte sich zu ihm herab wie ein besorgter Vater. »Ist unsere Gastlichkeit unvollkommen? Habt Ihr noch irgendeinen Wunsch, König Olin?«
Olin nickte und machte sogar eine Verbeugung, in der er eine ganze Weile verharrte, was ziemlich seltsam war — sonst hatte er immer alles darangesetzt, Sulepis nicht mehr als die allgemeinste Höflichkeit zu erweisen. »Ja. Ja, den habe ich. Ich wünsche mir Euren ...
Tod
!«
Zu Vashs Entsetzen richtete sich der Nordländerkönig jäh auf und stürzte sich auf den Autarchen, viel schneller, als es der Oberste Minister bei einem Mann in Olins Alter für möglich gehalten hätte. Die Wachen waren völlig überrumpelt, als der Nordländer dem Autarchen etwas in den Bauch stieß. Die Waffe zerbrach.
Olin wich zurück, in der Faust das abgebrochene Ende eines langen, scharfkantigen Steinsplitters. Vash erschrak, als er an ebendieser Faust Blut sah, merkte dann aber zu seiner unendlichen Erleichterung, dass es Olins eigenes war.
Olin fluchte mit gebrochener Stimme und taumelte rückwärts. Alle drei Wachen hatten ihre Waffen in Anschlag gebracht, zwei Gewehre und eine Luntenschlosspistole, wie sie nur die ranghöchsten Leoparden des Autarchen tragen durften. Weitere Wachen eilten herbei und hätten den Nordländer wahrscheinlich auf der Stelle erschlagen, aber Sulepis gebot ihnen Einhalt.
»Tut ihm nichts. Ich bin wohlauf«, verkündete der Autarch. Er zog einen Teil seines Gewands beiseite und entblößte das wattierte ärmellose Wams darunter. »Schade, dass Ihr unser Volk nicht sorgfältiger studiert habt, Olin.« Sulepis wirkte ungerührt, ja geradezu amüsiert, als wäre ihm nicht gerade eben ein scharfkantiges Stück Stein in den Leib gestoßen worden. »Am Tag der Feuer muss der Autarch wie ein Hoherpriester des Nushash gekleidet sein, das beinhaltet
alle
priesterlichen Kleidungsstücke, die äußeren wie die inneren.« Er gluckste vor kindlicher Schadenfreude. »Ich werde mich nie wieder darüber beschweren, solch warme Unterkleider tragen zu müsseni.«
Olin ließ das abgebrochene Stück Stein fallen, drehte sich um und rannte dorthin, wo der Höhlenboden ins Dunkel abstürzte. Der Leopard mit der Pistole zielte auf seinen Rücken, doch wieder stoppte ihn der Autarch.
»Er kann nirgendshin. Das weiß er. Lasst ihm seinen Augenblick der Freiheit.«
Der Leopard ließ widerstrebend die Waffe sinken, und alle beobachteten, wie der König von Südmark am Rand des Abgrunds stehenblieb. Er blickte lange hinab, drehte sich dann wieder zum Goldenen und den Wachen um. »Ihr habt teuflisches Glück. Ich habe lange auf diese Gelegenheit gewartet, aber Euer Gott passt offenbar auf Euch auf.«
»O ja, er passt auf«, sagte der Autarch immer noch lachend. »Aber er passt auf, weil er mich fürchtet!« Er deutete auf Olin. »Und, kleiner König? Was werdet Ihr jetzt tun?«
»Das Einzige, was Ihr nicht verhindern könnt.« Der Nordländer war zerzaust, blass und schweißnass, sein schlechter Gesundheitszustand war an seinem Gesicht und seinem schweren Atem abzulesen. »Ich werde mir das Leben nehmen. Ich brauche nur einen Schritt zurückzutreten. Dann werdet Ihr sehen, was aus Euren Plänen wird, ohne Sanasus Blut, um damit Euren dreckigen Zauber zu veranstalten!«
Olins Gesichtsausdruck ließ Vash keinen Zweifel, dass er seine Drohung wahr machen würde. Unerwartet keimte Hoffnung in ihm.
Wenn Olin Eddon stirbt, gibt unser Herr ja vielleicht seinen verrückten Plan auf, und wir können nach Xand zurückkehren — in ein lebenswertes Leben.
Doch der Autarch schien nicht im Mindesten beunruhigt. »Oh, Olin, das ist eine nette Komödie. Wie eine dieser Aufführungen hier bei Eurem Zosimia-Fest, nicht wahr?«
»Ich höre Euch nicht länger zu, nicht Eurem Wahnsinn und nicht Euren Spielchen.« Der Nordländer
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