Das Herz
stand direkt am Abgrund — er brauchte nicht einmal einen Schritt zurückzutreten, es reichte, sich etwas zurückzulehnen. Niemand würde es verhindern können.
»Das hat mit Spielchen nichts zu tun. Es ist wie bei Euren komischen Theaterstücken alles eine Frage des Zeitpunkts. Wenn Ihr gestern oder vorgestern damit gedroht hättet, hättet Ihr mich vor ein ernstes Problem gestellt. Aber heute ...« Sulepis gluckste wieder und schüttelte den Kopf »Oh, wartet nur, bis Ihr seht, wie Euch Eure eigenen Götter verraten und verflucht haben!«
»Wovon sprecht Ihr?«
Sulepis drehte sich um und flüsterte einem von dem halben Dutzend Leoparden, die in der Nähe bereitstanden, etwas zu. Der Mann drehte sich um und ging zum prächtigen, goldbestickten Zelt des Autarchen. »Ihr habt
einen
kleinen Fehler gemacht, Olin. Das ist nicht schlecht, aber es ist einer mehr, als Ihr Euch leisten könnt. Es ist nämlich nicht speziell das Blut Sanasus, der Weinenden Königin, das ich benötige, es ist das Blut ihres Ahnherrn, des Gottes Habbili — Kupilas Krummling für euch Nordländer.« Der Autarch lächelte über die zunehmende Bestürzung auf Olins Gesicht. »Der Gott streute seinen Samen nämlich etwas weiter als nur unter den Qar. So lebte er beispielsweise lange auf dem Berg Xandos unter seinen Feinden, und in dieser Zeit zeugte er ein, zwei Kinder mit Sterblichenfrauen. Oder vielleicht waren es auch Göttinnen oder Halbgöttinnen, die sich wiederum mit Sterblichen einließen — das spielt keine Rolle. In Xand gab es immer schon Geschichten über das Überleben von Habbilis Blutslinie. Meine Priester und ich konnten schließlich beweisen, dass diese Gerüchte stimmten ... und deshalb seid Ihr seit letzter Nacht nicht mehr der einzige Schlüssel, der die Himmelstür öffnen kann. Schaut!«
Der Leopard kam mit dem Mädchen zurück, das wie eine Braut aus dem Frauenpalast gekleidet worden war. Er brachte sie zu Sulepis und stieß sie neben den Laufbrettsklaven roh auf die Knie.
»Ihr erinnert Euch doch gewiss an Qinnitan aus dem Bienentempel, König Olin«, sagte der Autarch, als ob er sie bei einem Staatsbankett miteinander bekanntmachte. »Ihr seht sie jetzt, wie wir sie das erste Mal sahen, das Zeichen ihrer Blutslinie sichtbar im Haar.« Er beugte sich vor und streckte den langen Arm aus, um das Haar des Mädchens zurückzuraffen; eine feurig-orangerote Strähne zog sich durch das glänzende Schwarz wie eine Wunde. »Ihr seht also, Ihr könnt Euch gern zu Tode stürzen, wenn Ihr wollt, Olin Eddon. Ich werde bedauern, dass mir diese letzten Stunden der Unterhaltung mit Euch entgehen, aber jetzt, da ich sie hier habe, brauche ich Euch und Euer Blut nicht mehr.«
Der Nordländerkönig sah vom triumphierend grinsenden Autarchen zu dem stumpf dreinblickenden Mädchen. »Ah, du bist es, Kind«, sagte Olin. »Ich hatte recht — da
war
etwas an dir.«
Sie sah ihn nur stumm an und wandte dann das angstverfinsterte Gesicht wieder dem Autarchen zu.
Nach kurzem Zögern hob Olin die Hände. »Ich ergebe mich. Ihr könnt mit mir machen, was Ihr wollt, Sulepis. Eine Gnade erbitte ich jedoch. Ich werde ohne Gegenwehr in den Tod gehen, wenn Ihr mir versprecht, das Mädchen zu verschonen. Sie ist doch noch ein Kind!«
»Ein Kind mit sehr, sehr altem Blut«, sagte der Autarch. »Aber Ihr seid nicht in der Position, Forderungen zu stellen, Olin.«
Das Mädchen sah auf, und zum ersten Male schien sie zu verstehen, was hier passierte. Ihre ohnehin schon großen dunklen Augen weiteten sich, als sie Olin am Abgrund stehen sah. »Geht!«, schrie sie, und dann, als ob sie klarmachen wollte, dass sie begriff, was vor sich ging, fügte sie hinzu: »Geht, sterbt! Seid frei!«
Doch statt ihn zu ermutigen, schienen diese Worte Olin Eddon die letzte Kraft zu nehmen. Er sank auf die Knie, ließ den abgebrochenen Steinsplitter fallen und rührte sich nicht, als die Wachen ihn vom Abgrund wegzogen und ihm schnell die Hände hinterm Rücken fesselten.
»Tut ihm nichts, aber bringt ihn wieder hinter Schloss und Riegel.« Der Autarch lächelte Vash an. »Belohnen können wir ihn für sein schlechtes Benehmen natürlich nicht.«
»Gibt es denn nichts, wozu Ihr Euch nicht erniedrigt?«, fragte Olin den Autarchen, als er an ihm vorbeigeführt wurde. »Sich hinter einem Kind zu verstecken ...!«
»Ich würde eine Million Kinder töten, um zu erreichen, was mir bestimmt ist«, sagte Sulepis ruhig. »Das ist der Grund, warum ich ein Gott sein werde,
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