Das Herz
alles, um dem Goldenen aus dem Weg zu gehen —, aber Vash hatte an diesem Morgen noch nicht einmal eine Tasse Tee getrunken, und sein Kopf schmerzte. »Es kommt mir nicht zu, das zu beantworten, König Olin. Wenn wir Glück haben, könnte uns der Goldene später mit seiner Gegenwart beehren. Warum?«
Olin wischte sich Schweiß von der Stirn. Er brachte ein mattes Lächeln zustande: »Ich habe schließlich nicht mehr viel Zeit, meine Neugier zu befriedigen, oder?«
Vash wand sich ein wenig. Er hatte für den Nordländer nichts übrig, fühlte sich aber unwohl dabei, so viel Zeit mit einem Mann verbringen zu müssen, der, wie jeder wusste, bald getötet werden würde. Zum einen schien es seine eigene Bedeutung herabzusetzen, aber es gab Momente, in denen es ihm noch auf einer anderen Ebene zu schaffen machte, wenn er auch nicht recht sagen konnte, auf welcher. Er hatte manchen Mann gekannt, der später hingerichtet worden war, aber man hatte nie von ihm verlangt, sich nach der Verhängung des Urteils mit demjenigen zu unterhalten und dafür zu sorgen, dass er sich wohl fühlte, ja ihn in allem wie einen Ehrengast zu behandeln außer in einem — der Art, wie er gehen würde. Dass ihm das jetzt zugemutet wurde, war unangenehm und unfair.
König Olin wandte sich ab und entfernte sich ein Stückchen; seine Wachen blieben dicht neben ihm. Kurz überlegte Vash, ob der Nordländer irgendeinen Trick plante, verwarf es dann aber. Olin hatte wahrlich Grund genug, sich seltsam zu benehmen. Vielleicht ging es ihm ja wie Vash selbst, und allein schon das Wissen, dass so viel Stein und Erde über ihm war, schlug ihm aufs Befinden. Und selbst wenn er ihnen etwas vormachte, war das ziemlich egal: Olin stand jetzt unter Dauerbewachung durch drei Leoparden des Autarchen, die allesamt mit Luntenschlossgewehren bewaffnet waren. Trotzdem, zu leicht durfte er es nicht nehmen: Der Mann sah wirklich krank aus. Vash beschloss, die Wachen nach Olins Appetit zu fragen. Wenn er starb, ehe der Goldene so weit war, wäre das eine Katastrophe.
Durchdringende Flötenklänge ertönten und hallten von den Höhlenwänden wider; Rauch von duftendem Räucherwerk drang in Schwaden aus dem riesigen Zelt des Autarchen, als der Eingang sich öffnete. Die Nushash-Priester krochen auf Händen und Knien heraus; selbst im Lampenlicht konnte Vash erkennen, dass sie Mühe hatten, ihre Gebete zu sprechen, ohne zu husten. Die Männer, die nach ihnen heraustraten, trugen je ein geschnitztes, poliertes und lackiertes Holzbrett — die Laufbretter, wie sie genannt wurden. Mit der Schnelligkeit einer eingespielten Akrobatentruppe ließen sie sich auf den Boden fallen und ordneten sich, auf dem Rücken liegend, zu einer Reihe an, die Bretter, mit Stirn, Händen und Füßen abgestützt, über sich, um so für den Autarchen einen Steg zu bilden. Vash wusste, dass der Goldene die Laufbretter nicht gerne für längere Strecken benutzte, da die Männer, die mit den schweren Brettern vom hinteren Ende nach vorn eilten, um sich wieder hinzuwerfen, die Klarheit seiner Gedanken störten.
»Was meint Ihr?« Sulepis trug nicht wie an den meisten Tagen seine Kriegsrüstung, sondern die hohe Kopfbedeckung und die scharlachroten Gewänder eines Nushash-Priesters, und sein Gesicht war mit Aschestreifen bemalt. Er nahm eine Pose ein und sagte feierlich:
»Möge die Dunkelheit an Euch vorüberziehen.«
Es war ein ritueller Gruß: Heute war der xixische Tag der Feuer, der Tag, den die Ungläubigen im Norden Mittsommerabend nannten. Morgen würde das Sterben der Sonne beginnen.
»Und ebenso an Euch, o Goldener.« Vash erinnerte sich, wie furchterregend ihm dieser Feiertag in seiner Kindheit erschienen war, besonders der Abend, wenn Klagegeheul und die Gesänge der mit Asche bedeckten Priester die Dunkelheit erfüllten. Mitten in der Nacht stürmten dann Horden wilder Frauen und Männer (jedenfalls war es dem kleinen Pinnimon so erschienen; er hatte nicht erkannt, dass es nur ganz normale Leute waren, die stundenlang getrunken und getanzt hatten) durch die Straßen, entzündeten Feuer und forderten die Leute in den Häusern auf, herauszukommen und mit ihnen Lärm zu machen, um den schrecklichen Todesgott Xergal zu verscheuchen, der Nushashs Bruder Xosh den Mond stehlen wollte. Wenn dann endlich am nächsten Tag, Tag des Rauches genannt, die Sonne aufging, schlichen die Feiernden in ihre Häuser zurück, um die Folgen ihrer Ausschweifungen auszuschlafen. An diesem Tag waren die
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