Das Hexen-Amulett (German Edition)
Prolog
1633
Krachend traf das Schiff auf einen Wellenberg. Wind heulte in den Spanten, schaufelte Gischt über das rutschige Deck und trieb die bebende Kogge auf die nächste Wasserwalze zu.
«Käpt’n, Ihr legt’s drauf an, dass die verfluchten Masten brechen!»
Der Kapitän ignorierte seinen Steuermann.
«Ihr seid wahnsinnig, Käpt’n!»
Natürlich war er wahnsinnig! Er war stolz darauf. Er lachte. Seine Männer schüttelten die Köpfe. Manche bekreuzigten sich, andere, Protestanten, beteten nur. Früher, bevor all die Schwierigkeiten begonnen hatten, war er Dichter gewesen. Und waren nicht alle Dichter verrückt?
Eine Stunde später ließ er die Segel reffen und beidrehen. Von Wellen geschüttelt, schlingerte das Schiff durch die aufgewühlte See. Er hatte sich zur Heckreling begeben und starrte lange durch Regen und Gischt auf die flache, schwarze Landzunge. Von der Mannschaft war kein Wort zu hören. Alle kannten die tückische Passage vor der Küste. Ihre Augen waren auf den Kapitän gerichtet.
Schließlich kehrte er zu seinem Steuermann zurück. Seine Miene wirkte jetzt ruhiger, trauriger. «Kurs halten und abwettern.»
«Aye, aye, Käpt’n.»
Sie kamen der Küste so nahe, dass der eiserne Korb auf dem Mast der Bake zu erkennen war. The Lizard. Für viele war es der letzte Blick auf England, für allzu viele gar die letzte Landsichtung, bevor sie im großen Atlantik verschollen gingen.
Der Kapitän nahm Abschied. Er schaute auf das Leuchtfeuer, bis es vom Sturm verschluckt wurde, starrte noch lange in die Richtung, als hoffe er, es könnte noch einmal aufleuchten. Es war ein Abschied.
Er ließ eine kleine Tochter zurück, die er nie gesehen hatte.
Er hinterließ ihr ein Vermögen, in dessen Genuss sie womöglich niemals kommen würde.
Er ließ sie zurück, so wie alle Eltern ihre Kinder irgendwann zurücklassen müssen. Doch von ihr hatte er sich schon vor ihrer Geburt getrennt, und der ganze Reichtum, mit dem er sie ausgestattet hatte, konnte seine Schuld nicht schmälern. Er hatte sie im Stich gelassen, wie er nun all die anderen im Stich ließ, an denen er sich schuldig gemacht hatte. Er segelte einem unbekannten Ziel entgegen in der Hoffnung, vergessen und neu anfangen zu können. Nur eines führte er mit sich, das ihn an seine Schande erinnerte: eine goldene Halskette, die er unter der Wetterjacke trug.
Einem König war er Feind, einem anderen Freund gewesen. Man hatte ihn als den stattlichsten Mann Europas bezeichnet, und trotz Gefängnis, trotz mancher Kriege war er immer noch eine beeindruckende Erscheinung.
Ein letztes Mal richtete er den Blick zurück. Von England war nichts mehr zu sehen. Seine Tochter blieb ihrem Schicksal überlassen.
Erster Teil
Das Siegel des Apostels Matthäus
1
An einem Tag, der wie ein Vorgeschmack auf das Paradies schien, begegnete sie Toby Lazender zum ersten Mal. England schlummerte in der Sommerhitze. Der Duft nach wildem Basilikum und Majoran hing schwer in der Luft. Sie saß am Ufer eines Baches, in einem Bett aus blühendem Blutweiderich.
Sie glaubte, allein zu sein, und schaute sich um wie ein scheues Tier, nervös und auf der Hut, denn sie war dabei, eine Sünde zu begehen.
Bestimmt war keine Menschenseele in der Nähe. Sie blickte nach links, wo der Pfad zum Haus durch die Hecke von Top Meadow führte. Es war niemand zu sehen. Sie schaute auf die Hügel jenseits des Baches, aber auch da, zwischen den Stämmen der hohen Buchen oder in den Auen unterhalb, rührte sich nichts. Das Land gehörte ihr.
Vor drei Jahren – sie war damals siebzehn und ihre Mutter seit einem Jahr tot – hatte sie sich zum ersten Mal dieser Sünde hingegeben, obwohl sie ihr geradezu ungeheuerlich vorgekommen war. Sie fürchtete damals, ein unvorstellbares Vergehen wider den Heiligen Geist begangen zu haben, etwas so Schreckliches, dass die Bibel dafür keine Worte hatte, wohl aber damit drohte, dass dem, der dieser Sünde verfalle, nicht vergeben werde. Und trotzdem hatte sie sie begangen. Jetzt, drei Sommer später, nachdem sie den Fehltritt häufig wiederholt hatte, war die Furcht geringer geworden. Dennoch bestand kein Zweifel, dass sie sündigte.
Sie nahm die Haube vom Kopf und legte sie vorsichtig in den breiten Korb, in dem sie die Binsen nach Hause tragen wollte. Ihr Vater, ein wohlhabender Mann, verlangte von ihr, dass sie dem Müßiggang widerstand. Der heilige Apostel Paulus, so pflegte er zu sagen, sei ein Zeltmacher gewesen, und nach seinem Vorbild
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