Das Hiroshima-Tor
beiden Männer schwelten in Timos Kopf weiter.
Zu seiner eigenen Überraschung war er gewissermaßen enttäuscht, dass sich an dem von den Koordinaten angezeigten Ort nicht
etwas gefunden hatte, was die Karten von Piri Reis erklärt und überdies bewiesen hätte, dass Zeromski mit seiner Theorie von
einer unbekannten frühen Zivilisation Recht hatte.
Die zentralen Fragen, die Vaucher-Langston und Zeromski gestellt hatten, blieben weiterhin unbeantwortet. Fragen, die mit
der Geschichte der Menschheit zu tun hatten, mit der lange zurückliegenden, aber auch mit der etwas jüngeren ... Timo konnte sich nicht enthalten, im Licht dessen, was er in der letzten Zeit erlebt hatte, mit der Frage zu spielen,
wie oder woher Yoshima Nishikawa die nötigen Erkenntnisse für sein gelungenes Experiment gewonnen hatte. Als Überlebender
von Hiroshima war er genau die richtige Person – die
einzig
richtige Person –, um eine Entdeckung zu machen, für deren Nutzung die Menschheit noch nicht bereit war.
Timo wusste jetzt, worauf er sein altes Interesse für die Geschichte richten würde. Er wusste auch, was einige sagen würden,
wenn sie Zeromskis Thesen hörten, aber das war ihm vollkommen egal. Für ihn war Zeromski ein echter Wissenschaftler, der versuchte,
ein Problem, das er sich gestellt hatte, zu lösen, ohne sich darum zu kümmern, was andere darüber dachten. In der gleichen
Lage waren schon zahllose Forscher vor ihm gewesen – oder Verbrechensermittler, deren Arbeit erst im Nachhinein Anerkennung
gefunden hatte. Nur so konnte man wirklich neue Dinge entdecken. Timo musste innerlich schmunzeln. Dennoch war er irgendwie
auch stolz, eine Geistesverwandtschaft zu einem Mann wie Zeromski zu empfinden.
|437| Das Rauschen der Wellen, die in gleichmäßigen Intervallen ans Ufer rollten, hypnotisierte ihn fast. Rautio hatte einige Stunden
zuvor angerufen, und Timo hatte ihm die Wahrheit gesagt: Er wusste nun, dass die KG B-Diskette echt war, aber er würde es nie mehr beweisen können. Auch Rautio war mit einer Wahrheit herausgerückt: Die Präsidentin beabsichtigte
nicht, zurückzutreten, auch die Premierministerin nicht.
Das war für Timo zwar keine Überraschung, aber doch eine Enttäuschung. Trotzdem wollte er über die Diskette den Mund halten,
wie er es versprochen hatte.
Würde er sich oder seine Prinzipien verraten, wenn er zur TERA zurückkehrte? Wilson hatte ihn darum gebeten, Timo hatte seine
Antwort für den nächsten Tag zugesagt.
Zufrieden war Timo damit, seinem Vater nichts von dem Material erzählt zu haben, das Präsidentin Heino denunziert hätte. Er
wollte seinen Vater bei seiner nächsten Finnlandreise besuchen, egal ob der Alte das wollte oder nicht. Das war egoistisch
gedacht, das gab er zu, aber er wollte es so.
Rund geschliffene Steine knirschten unter seinen Füßen. In der Ferne rauschte der Verkehr. Timo ging bis zum Wellensaum, dann
blieb er stehen und schaute zum Horizont.
Im Fall von Heli Larvas Tod hatten die italienischen Behörden ermittelt, bis von ihrer Seite aus alles geklärt war. Die amerikanische
Botschaft in Rom hatte sich eingeschaltet, da bei dem Schusswechsel auch zwei Amerikaner ums Leben gekommen waren.
Heli würde die Heimreise im Sarg antreten. Timo würde nie vergessen, wie sie ihn in den letzten Sekunden ihres Lebens angesehen
hatte. Sein einziger Trost lag in der Tatsache, dass Heli im Moment des Sterbens die Bedeutung ihrer Entscheidung bewusst
gewesen war.
Sie hatte als Wissenschaftlerin keine Publikationen hinterlassen, aber in ihrer Moral war sie letztlich ebenso unbestechlich
gewesen wie Yoshima Nishikawa.
Das Hiroshima-Tor hatte einen Spalt weit offen gestanden, aber Heli hatte es wieder geschlossen. Dieses Mal. Es war nicht |438| sehr wahrscheinlich, dass es für immer zu blieb, aber solange es Menschen wie Nishikawa und Heli Larva gab, konnte es, wenn
nötig, noch einmal geschlossen werden.
Natürlich war Heli kein Engel. Auch nach ihrem Tod hatte sie Timo noch eine Überraschung bereitet: Auf einem Zettel, der in
ihrer Tasche gefunden wurde, stand die Telefonnummer von Joni Mastomäki, der wegen der Anschläge in Olkiluoto festgenommen
worden war. Sie war also doch in irgendeiner Form an der Sabotage beteiligt gewesen. Sie hätte nicht mit der Telefonnummer
in der Tasche umherlaufen müssen, sie hätte die Nummer bestimmt auswendig gewusst, aber sie wollte sichergehen, dass ihre
Beteiligung bekannt
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