Das Hiroshima-Tor
wirkte jetzt wesentlich heruntergekommener. Die Fensterrahmen schrien nach Farbe, die Backsteinwand hinter dem
Efeu nach Verputz. Das Dach sah bemooster aus als zuvor. Und der First – war der nicht ein bisschen eingesunken?
Timo war langsam richtig unbehaglich zumute. Hatte er eine überstürzte Entscheidung getroffen?
Nein. Der Experte von der Bank hatte sich überall umgesehen, |20| ihm wäre aufgefallen, wenn etwas Entscheidendes nicht in Ordnung gewesen wäre.
Soile machte – sofern das überhaupt möglich war – einen noch nervöseren Eindruck als Timo. Sie verbrachte nur die Wochenenden
in Brüssel und war daher überhaupt nicht begeistert von dem Hauskauf. Sie hatten dafür gar nicht genug Geld, und sie brauchten
in Brüssel auch nichts Eigenes. Sie bestritt allerdings nicht, dass es vernünftiger war, einen Kredit zu tilgen anstatt jeden
Monat diese horrende Miete zu zahlen.
Bei 285000 Euro Schulden gab es allerdings auch einiges zu tilgen. Timo war zwar nie ein glühender Anhänger der EU gewesen, aber er hatte
nichts dagegen, dass sie ihm ein wesentlich bessers Gehalt zahlte als seine früheren Arbeitgeber in Finnland, die zentrale
Kriminalbehörde KRP und die Sicherheitspolizei.
Die bisherigen Eigentümer öffneten die Tür und waren so herzlich wie die Male zuvor. Das gut siebzigjährige Paar schien direkt
aus einem Gemälde von van Eyck zu stammen. Der Mann war blass, dünn und wirkte eher verschlossen, die dunkelhaarige Frau war
lebhafter und vor allem gesprächiger.
Zum Glück bereitete das Innere des Hauses Timo keine Enttäuschung. An vielen Stellen war eine Renovierung nötig, am dringendsten
im Bad und in der Küche, aber die Atmosphäre machte diese Mängel wett. Im Grunde hätte man die hohen, schattigen Räume auf
der Stelle beziehen können. Timo beruhigte sich beim Blick auf den Dielenboden im Flur, auf das ursprüngliche Musterparkett
im Wohnzimmer, auf den Erker und den Kamin. Lediglich den Küchenboden hatten sie mit Linoleumplatten komplett verhunzt.
Auf einmal begann das ganze Haus zu zittern. Man hörte ein starkes Dröhnen auf niedriger Frequenz, das ständig zunahm. Das
Geräusch schien von einem mobilen Erdbeben zu stammen – wurde aber nur durch einen Zug verursacht.
Soile warf Timo einen stechenden Blick zu.
»Ein Güterzug mit Erz!«, rief der Vorbesitzer über den Lärm hinweg. »Die sind selten. Personenzüge merkt man kaum.«
|21| Timo nickte unsicher. Die Eisenbahnlinie lag in der Senke direkt unterhalb der Eibenhecke. Beim letzten Mal war lediglich
ein Personenzug vorbeigefahren. Die Strecke war einer der Gründe, die den erträglichen Preis erklärten. Weitere Gründe waren
die fehlende Zentralheizung, der mittelprächtige Allgemeinzustand des Hauses und die Lage an einem Nordhang.
Timo spürte das Vibrieren des Telefons in seiner Tasche. Der Klingelton ging im Rattern des Zuges unter, das nun langsam abnahm.
Der Anruf kam aus Helsinki, von der Sicherheitspolizei. Välimäki war am Apparat.
»Hast du einen Moment Zeit? Bist du am Bahnhof?«
»Nein«, knurrte Timo und ging ins Schlafzimmer. »Schieß los.«
Normalerweise erkundigte sich Välimäki immer, wie es Timo ging oder wenigstens ob es in Brüssel schon wieder regnete, aber
diesmal klang er so gehetzt, dass Timo sofort aufmerksam wurde.
»Letzte Nacht gab es einen Sabotageakt auf der Baustelle von Olkiluoto 3.«
Timo erschrak, obwohl ihn die Mitteilung nicht unbedingt überraschte. Er hatte in einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der Sicherheitspolizei,
des Kraftwerkbetreibers
TVO
, des Energiekonzerns
Fortum
, des Strahlenschutzzentrums und der normalen Polizei gesessen, die sich mit der Sicherheit der finnischen Atomkraftwerke
nach den Terroranschlägen vom 11. September beschäftigt hatte. Man rechnete durchaus damit, dass die Baustelle des dritten Meilers von Olkiluoto und erst recht
das Testgebiet für die Endlagerung von gebrauchten Atombrennstäben Aktivisten von Greenpeace und anderen Organisationen anziehen
würden, eventuell auch einzelne Störer und Gestörte.
»Was heißt Sabotageakt?«
»Sie haben Zucker in die Tanks von Betonfahrzeugen gefüllt.«
Timos Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. »Es hätte wahrscheinlich schlimmer kommen können.«
»Vielleicht steht uns das noch bevor.«
Damit hatte Välimäki wohl Recht. Jemand hatte eine Schwelle |22| überschritten, die Schwelle von Worten zu Taten, und das war die höchste
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